kurz:erklärt
Geschlechternormen sind tief in sozialen Strukturen verankert und biographische Erfahrungen sind stets auch durch geschlechterbezogene Positionierungen beeinflusst. Geschlechtserzeugende Praxen sind omnipräsent und persistent. Insbesondere weil geschlechterspezifische Normen frühzeitig internalisiert werden und es teilweise mit erheblichen sozialen Kosten verbunden ist, sich ihrer Herstellung zu entziehen (Hirschauer, 1993; Lindemann, 2011), erhalten Geschlechterrollenvorstellungen (ihre Aneignung, Produktion, Emergenz und Verfestigung) biographische Relevanz. So gesehen, sind Biographien stets auch geschlechterbezogene Konstrukte und deshalb seit langem immer wieder Gegenstand der Geschlechterforschung (Diezinger et al., 1994; Lutz & Davis, 2005). Vor diesem Hintergrund leuchten wir hier das Feld der Biographieforschung im Kontext von geschlechtsfokussierenden oder zumindest -sensiblen Untersuchungen aus. [1]
Wenngleich unter Biographie allgemein eine Lebensgeschichte verstanden wird, hat sie wissenschaftlich vielfältige Bedeutungen und wird mit verschiedenen Forschungsmethoden untersucht. Zu nennen wären beispielsweise Oral History, Tagebuchforschung, historisch-autobiographische Forschung oder ethnografische Beobachtungen biographisch relevanter Ereignisse. Das biographische Interview als zentrale Methode sozialwissenschaftlicher Biographieforschung erhebt mündliche Stegreifschilderung lebensgeschichtlicher Ereignisse (hierzu etwa Schütze, 1983, 1987). Biographien sind in biographischen Interviews als interaktiv-prozessual gestaltete sowie perspektivisch gelagerte Konstrukte zu fassen. Dabei werden biographische Darstellungen je nach zugrunde gelegten theoretischen Perspektiven und Konzepten mit Konsequenzen für die Analyse dieser verschieden charakterisiert. So lassen sich Theoretisierungen von Biographien entlang der Frage differenzieren, ob bzw. inwieweit ein Zusammenhang zwischen der Darstellung eines vergangenen Ereignisses im Interview und des damaligen Handelns und Erlebens angenommen wird (ausführlich Gabriel, 2021, S. 30-32). Wird theoretisch zugrunde gelegt, dass biographische Darstellungen über Ereignisse eine Übereinstimmung zeigen mit dem damaligen Handeln und Erleben (zur sogenannten Homologiethese Schützes: etwa Schütze 1984, S. 78; zu ihrer Kritik: etwa Bude, 1985; Nassehi, 1994; und zur Gegenkritik: Schütze, 2016, S. 25; Detka & Reim, 2016, S. 13f.), ist Damaliges etwa mit Blick auf die Verlaufsförmigkeit und Erfahrungsaufschichtung (Schütze, 1983, S. 285; Riemann, 1987) analysierbar. In einer anderen Perspektive – unter Annahme einer Diskontinuität oder Heterologie – gerät eher die Überlagerung retrospektiver Darstellungen durch die gegenwärtige Perspektivität mit ihren Einflussfaktoren wie soziale und lokale Verortung oder Interessenlage usw. in den Blick (etwa Brockmeier, 1999, S. 33-34; Scholz, 2004, S. 31). Mit Folgen für die Analyse der biographischen Darstellung dominiert in dieser Perspektive das Hier und Jetzt über das Dort und Damals. Als relativer Common Sense in der Biographieforschung gilt wiederum die analytische Trennung zweier Wissensebenen. Gemäß diesem Grundprinzip liegen sie in biographischen Darbietungen in Form von im- und explizitem Wissen vor. Implizites Wissen bezieht sich auf handlungspraktisches Wissen, das unterschwellig, nicht-reflexiv vorliegt und daher im Vollzug – bspw. in der Textsorte Erzählungen (zur Textsortentrennung: Schütze etwa 1983, 1987) – zum Ausdruck gelangt (u.a. Polany, 1985; Ryle, 1969). Explizit ist demgegenüber ein Wissen, das direkt versprachlicht werden kann, weil es als Eigentheorien wie Einschätzungen, Haltungen, Erklärungen usw. – also in Textform der Argumentation und z.T. Beschreibung – reflexiv vorliegt (Schütze, 1987, S. 191-194). Daneben sind in Erlebnisschilderungen auch gesellschaftliche, sozialweltliche und zeithistorische Lebens- und Wirkzusammenhänge abgelegt (Schulze, 2002, S. 142; Abraham, 2017, S. 132). So sind Biographien als Verschränkung von Subjektivem und Gesellschaftlichem zu fassen, in denen – wenn auch durch das Nadelöhr der Subjekte beziehungsweise ihrer Praxen – strukturelle Lagerungen auf Mikro- und Makroebene zum Ausdruck gebracht werden (etwa Marotzki, 1996; Krüger & Deppe, 2010; Ecarius, 2018, S. 170). [2]
So wie Aneignungsprozesse in der Regel unbemerkt verlaufen und erst im Nachgang reflektiert werden, schreiben sich auch Geschlechterbezüge in eine Biographie, unabhängig von einer bewussten Selbstbeschreibung des Subjekts unterschwellig ein (Dausien, 2000, S. 106). Vergeschlechtlichungsprozesse lassen sich als Abfolge von Zuweisung, Inkorporierung und (De-)Thematisierung fassen (Hirschauer, 2001; Gregor, 2015, S. 141) und in Form geschlechtlicher Ordnungen sowie des Umgangs mit ihnen aus biographischen Darstellungen herauspräparieren (etwa Gildemeister & Wetterer, 1992). Dabei wirken unter anderem geschlechterrelevante Normen und wechselseitige soziale Vorstellungen in Interaktionen und somit auch in biographischen Schilderungen vor allem unbewusst. In der Folge kommen wechselseitige Bezüge subjektiven Handelns und Erlebens mit geschlechterbezogenen Normativitäten eher symptomatisch zum Ausdruck. Durch verschiedene Untersuchungen von Geschlecht als Erfahrungs- und/oder Erzählgegenstand liegen dazu Hinweise auf geschlechtertypische Darbietungsformen vor (etwa Nünning & Nünning, 2004; Scholz, 2004; Gymnich, 2017): Während sich als zentrales Charakteristikum für narrative Interviews mit ‚Männern‘ eine Unsichtbarkeit von Männlichkeitskonstruktionen in Form einer Sprachlosigkeit über sie zeigt (Meuser, 1998), sind biographische (Geschlechter‑)Präsentationen von ‚Frauen‘ stärker von direkten Verweisen geprägt und können mitunter als „Geflecht mehrerer roter Fäden aus dem Text einer Lebensgeschichte herauspräpariert werden“ (Dausien, 2001, S. 64). Und obwohl narrative Interviews insgesamt im Spannungsverhältnis von Geschlechterbezügen und sozialer Rahmung stehen und so von Geschlechterspezifiken mitstrukturiert sind, ist die Relation von biographischer Darstellung und vergeschlechtlichtem Subjekt nicht determiniert, sondern ein Aushandlungsprozess (Dausien, 2001, S. 71). [3]
Biographieforschung zeichnet sich durch eine vielfältige Verwendung von theoretischen Grundlegungen aus. So werden etwa Verknüpfungen zur Theorie Bourdieus (etwa Alheit et al., 1999a/b; Engler, 2001; Siegert, 2021) ebenso hergestellt, wie Bezüge zur Kritischen Theorie (etwa Apitzsch, 2018), zu sozialkonstruktivistischen (etwa Alheit & Dausien, 2000; Dausien, 2012), bildungstheoretischen (etwa Marotzki, 1990; von Felden, 2003; Ecarius, 2006), psychoanalytischen (etwa Dörr et al., 2008; Habermas & Köber, 2015) oder postkolonialen Zugängen (etwa Gutiérrez Rodríguez, 1999; Polat, 2017) Verwendung finden. In biographisch fundierter Geschlechterforschung lassen sich Forschungsrichtungen entlang der Analyse verschiedener Aspekte von Geschlechtlichkeit identifizieren: Frauen*- und Weiblichkeitsforschungen (etwa Wohlrab-Sahr, 1993; Dausien, 1996; Geissler & Oechsle, 1996; Becker-Schmidt, 2010), Männer*- und Männlichkeitsforschung (etwa Connell & Messerschmidt, 2005; Connell, 2006; Meuser, 2010; Spies, 2010) und stärker vielfaltsbezogene geschlechtertheoretische Arbeiten (etwa Schirmer, 2010; Ersan, 2013; Gregor, 2015). Wird die Unterscheidung nach Schwerpunkten, bei denen ‚Geschlecht‘ systematisch aus biographieanalytischer Perspektive einbezogen wird, vorgenommen (ausführlich Dausien, 2010, S. 365-366), sind zum Beispiel folgende Themenschwerpunkte zu erkennen: Arbeit (etwa Becker-Schmidt, Knapp & Schmidt, 1984; Wohlrab-Sahr, 1993), Bildungsprozesse von ‚Frauen‘ (etwa Kraul, 1989; Conrad & Kleinau, 1996; Dausien, 2001), Migration (etwa Agha, 1997; Gutiérrez Rodríguez, 1999; Gültekin, 2003; Hummrich, 2009), Schule (etwa Höblich, 2010; Huxel, 2014), gesellschaftliche und politische Wandlungen (etwa Miethe, 1999), Körper oder Sport (etwa Sobiech, 1994; Rose, 1989; Delow, 2000) oder historische Bezüge (etwa Nave-Herz, 1993; von Engelhardt, 1996; Niethammer, 1996; Habermas, 2000; Heinritz, 2000). Diese Themenbereiche und Einflussfaktoren – von zum Beispiel familiären, gesellschaftlichen, politischen Strukturen, über den Stellenwert von (Bildungs-)Institutionen, hin zu Peers, Beziehungen, Interaktionen – lassen sich in einer biographieanalytischen Perspektive in ihren Genesen, Interdependenzen und sozialisatorischen Einflüssen rekonstruieren. [4]
Insgesamt gilt die Schilderung einer Biographie als komplexe Konstruktionsleistung, die – standortabhängig – auch Prozesse, (Zeit-)Strukturen, Praxen und Diskurse der Vergeschlechtlichung präsentiert, die wiederum je nach theoretischer Perspektive und Method(ologi)e herausgearbeitet werden können. Konstruktivistische Forschungsansätze im weitesten Sinne und die darauf basierenden Ergebnisse können dazu dienen, binären und ontologischen Geschlechtervorstellungen entgegenzutreten und eine ausreichende Offenheit zu erzeugen. Kritische Perspektiven wie beispielsweise Diskussionen rund um den Begriff der Reifizierung (etwa Gabriel et al., 2021) oder auch Intersektionalität (etwa bei Lutz & Davis, 2005; Phoenix, 2010) sind dabei mit zu reflektieren Dabei begleiten nicht nur Theorietraditionen und Forschungsarbeiten der Geschlechterforschungen die (Weiter‑)Entwicklung qualitativer Forschung, insbesondere biographischer Forschung, auch umgekehrt beeinflussen biographische Ansätze die Arbeiten und theoretischen Konzepte der Geschlechterforschungen. [5]
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Zitationsvorschlag:
Gabriel Sabine; Leinhos, Patrick (2022). Biografieforschung und Geschlecht. In Gender Glossar / Gender Glossary (5 Absätze). Verfügbar unter http://gender-glossar.de
Peristente URN: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa2-828662 (Langzeitarchiv-PDF auf Qucosa-Server)
Dr.in Sabine Gabriel
Dr.in Sabine Gabriel hat Ethnologie, Soziologie sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Qualitative Bildungs- und Sozialforschung an der Otto von Guericke Universität Magdeburg studiert. Sie war Gastkollegiatin am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt und Graduierten-Stipendiatin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, wo sie im Fach Erziehungswissenschaft zum Verhältnis von Körper, Biografie und ihrer Erforschbarkeit promoviert hat. Zurzeit ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Körpersensible Pädagogik“ innerhalb des Projekts Kalei2 und im ‚Seiteneinstiegsprogramm‘ am Zentrum für Lehrer*innenbildung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind (Leib-)Phänomenologie, Bildungs- und Professionalisierungsforschung, Soziale Differenz und Ungleichheit (insb. Geschlechterforschung und Forschung zu sexualisierter Gewalt)
Kontakt: sabine.gabriel@paedagogik.uni-halle.de
Patrick Leinhos
Patrick Leinhos hat Erziehungswissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg studiert. Nach einem Promotionsstipendium der Hans-Böckler-Stiftung arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich ‚Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt soziokulturelle Bedingungen von Erziehung und Bildung‘ am Institut für Pädagogik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er promoviert zum Thema Engagement im jungen Erwachsenem alter und nutzt dafür einen biographietheoretischen Zugang. Seine Forschungsschwerpunkte sind qualitative Forschungsmethod(ologi)en, Jugend-, Peer- und Engagementforschung sowie geschlechter- und queertheoretische Ansätze.
Kontakt: Patrick.Leinhos@paedagogik.uni-halle.de
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