Als Sexualhormone werden körpereigene biochemische Substanzen bezeichnet. Sie gelten – neben anderen körperlichen Merkmalen – als biologische Determinanten des Geschlechts, des Verhaltens und als Auslöser des Bedürfnisses nach Sexualität und Fortpflanzung. Dieses Wissen basiert auf Forschung im Spannungsfeld von Medizin, Biologie und Pharmazie zunächst zu Sekreten, später u. a. zu Geschlechtsorganen, Drüsen und Hormonen. Es bildete die Basis zahlreicher Konzepte zur sexuellen Entwicklung des Menschen. Parallel zu jener Forschungspraxis entwickelte sich mit der experimentellen Medizin beziehungsweise experimentellen Physiologie ein medizinischer Fachbereich, der die Rekonstruktion von Körperfunktionen im Laborexperiment fokussierte (vgl. Walch, 2016). Ein früher Vertreter der Experimentalphysiologie, Claude Bernard (1813–1878), führte Mitte des 19. Jahrhunderts in Abhängigkeit von der beobachteten Absonderung der Sekrete innerhalb und außerhalb des Körpers die Unterscheidung in innere (endokrine) und äußere (exokrine) Sekrete ein – wie etwa (innere) Ovariensekrete oder (exokrines) Sperma (vgl. Bernard, 1865). Die ‚Lehre von der inneren Sekretion’ war eng mit der Entwicklung neuer Techniken des Organersatzes verbunden. Die Entnahme und Ersetzung der innersekretorischen Drüsen – beispielsweise Ovarien oder Hoden – durch pharmazeutische Präparate und später Transplantate lieferten Erkenntnisse über die Drüsenfunktion und stellten therapeutische Möglichkeiten in Aussicht. Nach 1900 wandelte sich das Erklärungsmodell der inneren Sekretion in ein Konzept hormoneller Stoffe und damit auch die Vorstellungen zu ihrer materiellen Beschaffenheit als molekulare Wirkstoffe. 1905 fand der Begriff Hormone, abgeleitet vom griechischen Begriff hormao („ich rege an“), erstmals durch Ernest H. Starling (1866–1927) Erwähnung. Diese mittels des Blutstroms transportierten und in geringen Mengen wirksamen ‚chemischen Botenstoffe‘, so lautete das neue Wissen, bestimmten die Entwicklung der Geschlechtsmerkmale und regulierten vitale körperliche Prozesse. In ihrer chemischen Form wurden sogenannte weibliche und männliche Sexualhormone erstmalig zwischen 1929 und 1939 entdeckt oder vielmehr konstituiert: Östron 1929, Östradiol 1931, Progesteron 1934, Testosteron 1939 (Sengoopta, 2006, S. 40, S. 56; Medvei, 1982, S. 255, S. 341, S. 387). [1]
Bereits in der frühen Hormonforschung im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert sammelten (zu dieser Zeit ausschließlich männliche) Wissenschaftler in einem komplexen Wechselspiel von Beobachtungen aus der klinischen Praxis und aus gezielten Experimenten an Versuchstieren empirische Daten, die sie in allgemeine Theorien und entsprechende Behandlungsschemata für Menschen überführten. Beispielsweise wurden sogenannte organo-therapeutische (Drüsen-)Präparate in den 1890er Jahren angeboten, nachdem der Physiologe Charles-Édouard Brown-Séquard (1817–1894) von einem leistungs- und potenzsteigernden Selbstversuch mit einer Hodensubstanz berichtet hatte. Während diese Indikation für ‚männliche‘ Sexualhormonpräparate prägend blieb, war die Hormonbehandlung von Frauen bis weit in die 1920er Jahre reproduktionsmedizinisch ausgerichtet (Walch, 2018). Diese androzentrische Schwerpunktsetzung auf die Zeugungsfähigkeit von Frauen entsprach der zeitgenössischen Betrachtung des biologischen Frauenkörpers als eines defizitären: Durch vermeintliche Menstruationsstörungen und klimakterische Dysfunktionen gekennzeichnet, galten Frauenkörper durch Unfruchtbarkeit bedroht. Der Sterilitätsbehandlung korrespondierten Forschungen zur hormonellen, sogenannten temporären Sterilisierung, die sich um 1960 in den hormonellen Antikonzeptiva (‚die Pille‘) realisierten. Eine geplante Schwangerschaft oder ‚Schwangerschaftsverhütung‘ konnte buchstäblich erst durch die Hormonisierung des weiblichen Körpers verwirklicht werden (Stoff, 2012, S. 226–253). Trotz ihres Status als körpereigene Wirksubstanzen waren Sexualhormone immer auch prekäre Stoffe. Als potenziell kanzerogen galten bereits seit den 1930er Jahren die durch ein teilweise aromatisiertes Kohlenstoffskelett gekennzeichneten Östrogene. Deren Verwendung zur Verhütung und das Versprechen der Verweiblichung und Verjüngung durch Östrogeneinnahme wurden Ende der 1960er Jahre mit dem Krebsverdacht konterkariert (Gaudillière, 2006). [2]
Die Drüsen- und Hormonforschung war von Beginn an auch von gesellschaftlichen Vorstellungen geprägt (Schmitz, 2006, S. 33–56; Fausto-Sterling, 2005, S. 1491–1527). Ausgehend von der Annahme einer biologisch festgelegten Binarität der Geschlechter übertrugen Wissenschaftler Denkarten über ‚weibliche‘ und ‚männliche‘ Körper auf ihre Forschungsobjekte – hier ‚männliche‘ und ‚weibliche‘ Hormone – und konfigurierten dadurch die soziale, kulturelle und politische Geschlechterordnung mit. Den Sexualhormonen kam damit eine bedeutsame Rolle bei der Debatte über den strikten Dimorphismus der Geschlechter zu (Roberts, 2007; Sengoopta, 2006; Oudshoorn, 1994). So schien die Hormonforschung um 1900 jene, in den transatlantischen Gesellschaften diskutierten Veränderungen in der vermeintlich fest gefügten Geschlechterordnung und die damit verbundenen sozialen Rollen der Geschlechter erklären zu können (vgl. Weininger, 1904; Walch, 2016, S. 87–95; Heindl, 2010, S. 736–738). Umgekehrt beeinflussten Geschlechterdiskurse die wissenschaftliche Forschung. Etwa führte der Wiener Physiologe Eugen Steinach (1861–1944) ‚männliches‘ Verhalten von Frauen und ‚weibliches‘ Verhalten von Männern auf eine hormonelle Flexibilität im biologischen Geschlecht zurück. In den 1910er Jahren schuf er durch experimentelle „Feminierung von Männchen und Maskulierung von Weibchen“ (Steinach, 1913, S. 717–723) eine flexible hormonelle Ordnung der Geschlechter. Durch Implantation von Ovarien in kastrierte männliche Nagetiere war ihm deren ‚Verweiblichung’, durch Implantation von Hoden in kastrierte Weibchen deren ‚Vermännlichung‘ gelungen. Weiterhin schlussfolgerte er aus seinen Experimenten, dass sich der hormonelle Einfluss auf Soma und Psyche erstrecke; die sogenannte Trennung der Geschlechter sei durch das Wirken der Sexualhormone bedingt. Steinach erklärte zudem, dass es experimentell möglich sei, Geschlechtervariationen herzustellen. Seine Versuche bestätigten die Zwischenstufenlehre Magnus Hirschfelds (1868–1934) (Hirschfeld, 1918), in der dieser die Existenz fast endloser Möglichkeiten männlich-weiblicher Mischformen konstatierte und sogenannte Vollmänner und Vollweiber als lediglich imaginierte Idealtypen relativierte (vgl. Walch, 2016; Logan, 2013; Sengoopta, 2006; Stoff, 1999). In diesem „kontinuierlichen Gender-Mix“ (Link, 1997, S. 373) wurde der „strikte Dimorphismus der Geschlechter zu diskreten Eigenschaften flexibilisiert“ (Stoff, 2004, S. 451; vgl. Link, 1997, S. 373–377). Klinisch ließen sich mit einer solchen Betrachtungsweise sowohl Hormonbehandlungen Homosexueller als auch Geschlechtsumwandlungen rechtfertigen. Galt die Veränderung des Geschlechts zunächst der Wiederherstellung des vermeintlich normalen Dimorphismus, etwa in Bezug auf Intersexualität, korrespondierte mit diesen medizinischen Eingriffen im weiteren Verlauf das Recht jedes Individuums auf das ‚passende‘ Geschlecht, beispielsweise in Zusammenhang mit Transpersonen (Butler, 2004; Klöppel, 2010, S. 337–373). [3]
Die Entwicklung standardisierter Testverfahren für Testosterone und Östrogene revolutionierte in den frühen 1920er Jahren die pharmazeutische Sexualhormonpräparatentwicklung. Substanzen, die den sogenannten Hahnenkammtest bestanden, das heißt, die das Wachstum des Kamms von kastrierten Hähnen anzuregen vermochten, galten als maskulierende Wirkstoffe. Jene, die im Allen-Doisy-Test bei kastrierten Nagetieren eine brunsttypische Verhornung des Vaginalepithels bewirkten, galten als feminierende Stoffe (Stoff, 2004, S. 493). Mit den Tests waren Verfahren zur Isolierung von Sexualhormonen etabliert, welche die Herstellung von Monopräparaten – standardisierte Arzneimittel mit einem isolierten Wirkstoff – ermöglichten. Die Stoffe selbst wurden chemisch klassifiziert und den Sexualsteroiden zugeordnet. Die Festschreibung internationaler Maßeinheiten für Sexualhormone (Testosteron, Östrogene, Progesteron) auf zwei sogenannten Standardisierungs- oder Eichkonferenzen (1932, 1935) fixierte die Vorstellung von Sexualhormonen als messbare chemische Wirkstoffe. Die Biochemie der Sexualsteroide suggerierte eine scheinbar logische Erklärbarkeit von Geschlechterdifferenzen und einer als stufenweise wahrgenommenen Geschlechtsausbildung. Entscheidend erweitert durch die Hormone der Nebennierenrinde eröffnete sie zudem neue Möglichkeiten der molekularen und industriellen Hormonproduktion (Ratmoko, 2010; Gaudillière, 2008; Walch, 2016, S. 179–186; Satzinger, 2004). [4]
Die Messung der Sexualsteroide im biologischen Testverfahren führte auch zur Erkenntnis, dass ihr Vorkommen nicht geschlechtsspezifisch ist, denn es ließen sich männliche Sexualhormone im Frauenkörper und weibliche Sexualhormone im Männerkörper nachweisen. Hierbei erwies sich die Forschung zu den gonadotropen, auf die Gonaden beziehungsweise auf die Keimdrüsen wirkenden Hormonen des Hypophysenvorderlappens (HVL) für die Restabilisierung der Geschlechterordnung als bedeutsam. Seit Ende der 1920er Jahre wurde angenommen, dass sich HVL-Hormone in einem komplexen Wechselspiel und Rückkoppelungsverhältnis zu den Hormonen der Keimdrüsen befänden. Diese Art hormoneller Regulierung wurde zunehmend als ein Selbststeuerungssystem dargestellt und als sogenanntes endokrines Feedback zwischen Keimdrüsen und Hypophyse erklärt, das wesentlich zur Entstehung und Erhaltung von Geschlechtsmerkmalen beitrage (Fausto-Sterling, 2000, S. 164–169; Nordlund, 2011). [5]
Die um 1960 formulierte brain organization theory fixierte erneut die strikte Geschlechtsspezifität von ‚männlichen’ und ‚weiblichen’ Sexualhormonen, indem sie männliches Verhalten aus dem pränatal prägenden Einfluss des Testosterons, weibliches Verhalten aus dessen Abwesenheit zurückführte. Darüber hinaus führte sie ‚männliche’ Hormone als Norm ein (Van den Wijngaard, 1997, S. 27–30, S. 49). Die normative Fixierung auf ‚männliche‘ Hormone diente wiederum zur Definierung des ‚weiblichen Anderen‘ sowie – ähnlich wie die Chromosomen oder das Gehirn – als bedeutsame Agentien zur Erklärung, Rechtfertigung und Herstellung von Zweigeschlechtlichkeit. [6]