Der Begriff Raum dient der Bezeichnung alltäglicher (Lebens-)Bereiche (Wohnraum, Schlafraum, Lagerraum, Spielraum etc.) und wird zudem mit unterschiedlichen metaphorischen Bedeutungsinhalten zur Beschreibung sozialer Handlungen verwendet (z. B. jemandem Raum geben, sich den Raum aneignen, einen Rückzugsraum einrichten). In medialen, politischen und öffentlichen Diskursen wird Raum zur Beschreibung legitimierter Territorien verwendet, die innerhalb ihrer spezifischen Raumgrenzen über eigene normative Regelwerke und institutionalisierte Rechtsordnungen verfügen (u. a. Freihandelsraum, Rechtsraum). Ebenso dient der Raumbegriff zur Kennzeichnung für bestimmte oder noch unbestimmte Gebiete, Flächen oder Gegenden, beispielsweise in den Begriffen Ballungsräume oder städtische Großräume. In den wissenschaftlichen Disziplinen der Mathematik, Physik, Philosophie, Geschichte und der Geografie ist der Raum sowohl als Untersuchungsgegenstand als auch als Analyseinstrument von zentralem Interesse. [1]
Angelehnt an die naturphilosophischen Ausführungen Isaac Newtons (1643–1727) gehen absolutistische Erklärungsmodelle von einer Dualität von Raum und Materie aus. Der Raum besteht als conditio sine qua non, somit unabhängig von der Existenz und der Anordnung sowie von den Positionen und Positionierungen von beispielsweise Körpern, Stoffen und Gegenständen (Newton, 1988 [1687]). Idealistische Erklärungsmodelle hingegen gehen von einem Raumkonzept aus, in dem der Raum erst durch die Position und Anordnung der Beobachtenden und von Körpern hervorgebracht wird. In der sozialwissenschaftlichen Diskussion über den Raum haben sich vor allem relativistische Raumkonzepte durchgesetzt: Diese betrachten soziale Handlungen, Positionen und Positionierungen als konstitutiv für den Raum. Mit dem raumsoziologischen Paradigmenwechsel in den 1970er Jahren, dem sogenannten spatial turn (Schroer, 2008; Warf & Arias, 2009), wurde die These von der sozialen Determiniertheit des Raumes weiterentwickelt. Infolgedessen wird der Raum zunehmend als räumliche Konkretisierung der vorherrschenden Gesellschaftsordnungen und Machtverhältnisse, als dynamisches und kontingentes Phänomen betrachtet (Soja, 1971), der sowohl sozial wirkmächtig, diskursabhängig als auch diskursbestimmend ist (Painter & Philo, 1995; Werlen, 2010). Es wird akzentuiert, dass physisch-materielle Räume durch soziale Praktiken (DeCerteau, 1988; Massey, 2005; Pink, 2012), im Sinne kultureller Deutungen, Handlungen etc., verhandelt und angeeignet werden (Lefebvre, 1991, S. 38–40). Außerhalb der Dichotomie von absolutistischen und relativistischen Raummodellen etablierten sich relationale (auch: relationistische) Raumkonzepte, für die Georg Simmels (1858–1918) (1968 [1908]) raumsoziologische Ausführungen als wegbereitend verstanden werden können. Relationale Raumkonzepte heben die Wechselwirkung zwischen Handeln und Strukturen als konstitutiv für die Entstehung des Raumes hervor (Löw, 2012, S. 164–169). Die Materialität des Raumes und seine Ordnungsstrukturen werden in diesen gleichermaßen als Voraussetzung und als Produkt sozialer (Alltags-)Praxis gedacht. [2]
Theoretische Annahmen solcher Art qualifizieren Raum als analytische Kategorie und sorgen für seine Anschlussfähigkeit an die Geschlechterdifferenzierungsforschung sowie die Gender und Queer Studies. In den Fokus geraten u. a. folgende Fragen nach der Interdependenz von Raum und Geschlecht: Wie wirkt Geschlecht als soziale und normative Differenzkategorie auf die Konstitution, Ordnung, Produktion, Wahrnehmung und Nutzung von Räumen? Wie wirken wiederum Räume (Raumproduktionen, räumliche Ordnungen, Raumstrukturen, Raumgrenzen etc.) auf Geschlechtsidentitäten, Geschlechterpraktiken und -präsentationen und auf Geschlechterverhältnisse? Für eine raumsoziologisch motivierte Geschlechterforschung ist die Annahme zentral, dass sich Geschlechterverhältnisse nicht nur in bestimmten Räumen der Gesellschaft, sondern zugleich als bestimmte räumliche Ungleichheitsordnungen konkretisieren (Bauriedl, Schier & Strüver, 2010; Mahler & Pessar, 2001; Massey, 1995; McDowell, 1993, 1996; Ruhne, 2011). [3]
Neben Geschlecht wirken weitere Differenzkategorien wie Ethnizität, Race, Religion und Alter auf gesellschaftliche Positionen und Positionierungen in sowie auf Zugänge zu Räumen und auf Sichtbarkeiten (Alcoff, 2006; Anthias & Yuval-Davis, 1995; Duncan et al., 2012; Gilbert, 1998). Im Kontext globalisierungskritischer Diskurse hat zudem in den vergangen Jahren die Anzahl von Forschungsarbeiten zu sozialer Ungleichheit und räumlicher Mobilität zugenommen (u. a. Konietzka, 2012; Morgan, Grusky & Fields, 2006). Zwar gilt die Staatsangehörigkeit als eine der wirkungsvollsten Kontrollmechanismen des Raumes und räumlicher Mobilität (Painter & Philo, 1995; Werbner & Yuval-Davis, 2005), allerdings gewährleistet auch diese formalisierte Zugangsberechtigung nicht den uneingeschränkten Zugang zu allen gesellschaftlich relevanten Räumen. So stellt der strukturelle Ausschluss von Frauen aus der Öffentlichkeit, aus relevanten gesellschaftlichen Teilbereichen wie aus dem Bildungssystem, der Politik oder dem Arbeitsmarkt, ein grundlegendes und kulturübergreifendes Merkmal patriarchaler Gesellschaftsordnungen dar (Dux, 1992, S. 365). [4]
Auf den weitgehenden Ausschluss von Frauen aus der bürgerlichen Öffentlichkeit und die hierarchisierende Trennung von privater und öffentlicher Sphäre reagierten Feminist_innen während der zweiten Frauenrechtsbewegung in den 1970er Jahren u. a. mit Gegenentwürfen von Öffentlichkeit (Schuster, 2012, S. 643). Mit dem Appell „Das Private ist politisch!“ demonstrierten sie für eine Politisierung der Privatsphäre und der bis dahin als privat geltenden Themen wie Sexualität, Abtreibung, Schwangerschaft, Kindererziehung und häusliche Gewalt (Lenz, 2010). Infolge dieser Entwicklungen gingen in Westdeutschland die ersten parteiunabhängigen und autonom verwalteten Frauen- und Lesbenreferate hervor (Schulz, 2002), die eine räumliche Geschlechtersegregation als notwendige Rahmenbedingung für Ermächtigungs- und Emanzipationsprozesse verstanden. In der pädagogischen Praxis feministischer Mädchen- und Frauenarbeit sind geschlechtshomogene Räume auch heute noch von zentraler Bedeutung. Jedoch verweisen Vertreter_innen einer queer-feministischen und heteronormativitätskritischen Pädagogik auf den ambivalenten Charakter solcher geschlechtshomogener Räume und merken kritisch an, dass gerade der räumliche Ausschluss von Personen aufgrund heteronormativer, kategorialer Zuschreibungen zu einer Reproduktion dieser Kategorien führen könne (vgl. Fröhlich, 2018). [5]
Sichtbarkeit ist eine Prämisse für die gesellschaftliche (An-)Erkennung von Personengruppen und damit auch von Minderheitenangehörigen (Alcoff, 2006). Daher ist die Herausbildung sichtbarer Positionierungen als Folge der Inanspruchnahme und Aneignung des öffentlichen Raumes durch marginalisierte Personen(gruppen) stets auch ein Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Ein Beispiel hierfür sind die jährlich stattfindenden Gay Prides, deren Teilnehmende gegen die Diskriminierung, Ausgrenzung und Stigmatisierung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans*Personen protestieren und für (mehr) politische und gesellschaftliche Anerkennung heterogener Lebensformen demonstrieren. Diese Form der öffentlichen Proteste und Demonstrationen sind aus raumsoziologischer Perspektive insofern von Relevanz, als hier nicht nur Meinungen und Forderungen öffentlich gemacht werden, sondern Inszenierungen von Geschlecht, Körper und nicht-heteronormativer Begehrensformen für die Öffentlichkeit sicht- und erfahrbar werden und zur Veränderung gewohnter und zur Herausbildung queerer Raumordnungen und subkultureller Gegen-Räume, z. B. von Lesben- und Schwulenvierteln, führen können (Çetin & Voß, 2016, S. 108; Halberstam, 2005). [6]
Die räumliche An- oder Abwesenheit, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Personen(gruppen) kann auch zur Verbreitung einer spezifischen Atmosphäre beitragen (Löw, 2012, S. 204–205). Die Wechselwirkung menschlicher Emotionen mit der Konstitution und Wahrnehmung bestimmter Räume wird in der Forschung unter Zuhilfenahme des Begriffs der Emotionalen Geographien untersucht (Davidson, Bondi & Smith, 2005; Davidson & Milligan, 2004; Lehnert, 2011). Studien, wie diejenigen von Valentine (1989), England und Simon (2010), Ruhne (2011) und Sandberg (2011), haben empirisch aufgezeigt, dass diskursiv erzeugte Angstszenarien zur Entstehung von sogenannten Angsträumen (spaces of fear), oder von no-go-areas, führen können. Das Nicht-Betreten angstbesetzter öffentlicher Räume wie Unterführungen, Park- und Grünanlagen oder bestimmter Straßen basiert auf der Erwartung negativer Konsequenzen, z. B. körperlicher Übergriffe, sexueller Belästigung, sexualisierter Gewalt und von Beleidigungen (Kutschinske, 2009; Yüksel, 2017). [7]