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Bettina M Bock & Anne Goldbach

Leichte Sprache


kurz:erklärt

Leichte Sprache‘ ist eine Form vereinfachten Sprachgebrauchs, der sich an bestimmte Zielgruppen richtet. Zunächst wurde ‚Leichte Sprache‘ vor allem in schriftlichen Texten angewandt, mittlerweile gibt es zunehmend mündliche Umsetzungsformen. Sie wird in der Regel als eine Form barrierefreier Kommunikation eingeordnet. [1]

Vereinfachte Sprachformen bzw. Sprachgebrauch, der sich in besonderer Weise um Verständlichkeit für bisher wenig beachtete Adressatengruppen bemüht, gibt es heute bereits in vielen Ländern und Sprachen (vgl. Lindholm & Vanhatalo, 2021). Im Ländervergleich unterscheiden sich die sprachlichen und multimodalen Praktiken ‚Leichter Sprache‘ sowie die programmatischen Ausrichtungen teilweise deutlich, was auch bedingt ist durch unterschiedliche Entstehungskontexte und -zeitpunkte. Die deutsche ‚Leichte Sprache‘ zeichnet sich durch das Ideal maximaler inhaltlicher und sprachlicher Reduktion und Vereinfachung aus. [2]

‚Leichte Sprache‘ kann im deutschsprachigen Raum als laienlinguistisches Phänomen eingeordnet werden, das sich als intuitive Sprachgebrauchspraxis entwickelt hat und sich durch explizite Normkodizes auszeichnet. Charakteristisch ist hier die Annahme, dass die Einhaltung kodifizierter sprachlicher und typografischer Regeln die Qualität leicht verständlicher Texte kontextübergreifend absichern kann. Es existieren unterschiedliche Regelwerke, die teilweise Überschneidungen aufweisen; sie wurden verschiedentlich vergleichend gegenübergestellt (vgl. Lieske & Siegel, 2014; Bredel & Maaß, 2016). Die ‚Leichte Sprache‘-Gebrauchspraxis ist jedoch durchaus variationsreich: Was von den regelhaft aufgestellten Ge- und Verboten in Texten tatsächlich umgesetzt wird, unterscheidet sich also teilweise deutlich. [3]

‚Leichte Sprache‘ ist noch immer stärker in der schriftlichen Kommunikation präsent als in der mündlichen (vgl. Bock & Leskelä, 2024). Auch ihre linguistische Erforschung bezieht sich derzeit schwerpunktmäßig noch auf den Bereich des Lesens. [4]

Dem Selbstverständnis nach richtet sie sich an verschiedene Zielgruppen. Im nach wie vor prägenden Regelwerk des Netzwerks Leichte Sprache (2022) wird nicht nur die Hauptzielgruppe Menschen mit sog. geistiger Behinderung (= Menschen mit Lernschwierigkeiten) genannt. Es werden außerdem eine Reihe weiterer Zielgruppen mit höchst unterschiedlichen Voraussetzungen aufgezählt: Demenzkranke, „Menschen, die nicht so gut Deutsch sprechen“, „Menschen, die nicht so gut lesen können“ (Netzwerk Leichte Sprache, 2022, S. 2). Forschungsbasierte Leichte-Sprache-Ansätze schließen sich der breiten Zielgruppenannahme tendenziell an (vgl. Bock & Pappert, 2023); Bredel und Maaß (2016) unterschieden dabei zwischen primären und sekundären Adressatengruppen. Ansätze wie diese betonen in der Regel, dass verschiedene Zielgruppen differenzierte Textangebote benötigen (vgl. Maaß, 2015; Bredel & Maaß, 2016; Bock, 2019). Die starke Prägung in der Entwicklung, Umsetzung und Verbreitung des Konzeptes durch Selbstvertreter:innen der Behindertenbewegung und später auch professionelle Akteure im Feld der sog. Behindertenhilfe führt dazu, dass ‚Leichte Sprache‘ in der öffentlichen Wahrnehmung primär mit der Zielgruppe Menschen mit Lernschwierigkeiten  assoziiert wird (Bock, Goldbach & Schuppener, 2022). [5]

Neben diesen Bestrebungen um eine vereinfachte Sprachform für spezifische Zielgruppen gibt es eine Reihe von anderen Praxis- und Forschungskontexten, in denen es darum geht und ging, Sprache und Kommunikation verständlicher zu gestalten (vgl. Lutz, 2015). Im Bereich Recht und Verwaltung sind hier insbesondere die Bemühungen um sog. ‚bürgernahe Sprache‘ zu nennen, die etwa in den 1980er Jahren begannen und bis heute darauf zielen, die (Text-)Kommunikation zwischen Bürger:innen und Verwaltung/Justiz verständlich und adressatenorientiert zu gestalten. Diese Praxis- und Forschungskontexte sind allerdings  weitgehend unabhängig von der Entstehung ‚Leichter Sprache‘. Damit unterscheidet sich ihre Geschichte im deutschsprachigen Raum von der anderer Länder wie beispielsweise Schweden, wo das Konzept „lättläst“ im Kontext einer allgemeinen Sozialbewegung entstanden ist und somit von Anfang an weniger auf einen spezifischen Zielgruppenzuschnitt ausgerichtet war  (vgl. Bohman, 2021). Solche Unterschiede sind bis heute prägend für die Ansätze in den verschiedenen Ländern. [6]

Die Geschichte der ‚Leichten Sprache‘ in den deutschsprachigen Ländern hat ihre Wurzeln auf europäischer Ebene und entwickelte sich seit den späten 1990er Jahren (vgl. Antener, Candussi, Goldbach & Sprenger, 2024). Damals noch unter dem Ausdruck „Leicht Lesbarkeit“ wurden 1998 die „Europäischen Richtlinien für die Erstellung von leicht lesbaren Informationen für Menschen mit geistiger Behinderung“ (Freyhoff et al., 1998) veröffentlicht, die von der Europäischen Vereinigung der ILSMH (International League of Societies for Persons with Mental Handicap) erarbeitet und auf verschiedene Sprachen übertragen wurde. Im Unterschied zur heutigen Prägung ‚Leichter Sprache‘ hatten diese Richtlinien noch deutlich stärker empfehlenden und weniger regelhaften Charakter (vgl. Bock & Pappert, 2023). [7]

Geht man – ganz pragmatisch – vom Ausdruck ‚Leichte Sprache‘ aus, so fallen die Ursprünge in den Zeitraum um das Jahr 2000, als die Selbstvertretungsorganisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten „Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e.V.“ das neue Wörterbuch für ‚Leichte Sprache‘ erstellte (vgl. Mensch zuerst e.V. 2008). In dem Projekt „Pathways“ von Inclusion Europe wurden dann auf europäischer Ebene Regeln für die deutsche ‚Leichte Sprache‘ entwickelt. [8]

Mittlerweile ist sie in nahezu allen Lebensbereichen und in Form so gut wie aller Textsorten alltäglich präsen. Mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (2008 in Österreich, 2009 in Deutschland, 2014 in der Schweiz) haben sich die ratifizierenden Länder dazu verpflichtet, barrierefreie Kommunikationsangebote wie ‚Leichte Sprache‘ in öffentlichen Einrichtungen des Bundes vorzuhalten. [9]

Dass ‚Leichten Sprache‘ heute diese hohe Sichtbarkeit und einen gesellschaftlichen Stellenwert hat, gilt als ein Ergebnis der Empowermentbewegung für mehr Teilhabe und Partizipation von Menschen mit Behinderungen. Sie hat den Status einer langfristig wirksamen Errungenschaft der Behindertenbwegung auch in Deutschland. Die Forderungen nach verständlicher Sprache für barrierefreie Zugänglichkeit sind mittlerweile auch in verschiedenen gesetzlichen Bestimmungen (BITV 2.0 von 2011, in der in Anlage 2, Teil 2, Behindertengleichstellungsgesetztes (BGG) § 11, Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG)) umgesetzt. Diese zielen darauf ab, einen Beitrag zur Inklusion zu leisten, indem Teilhabebarrien abgebaut werden. Gleichzeitig wird in der Forschung diskutiert, inwiefern die derzeitige Konzeption ‚Leichter Sprache‘ (mit ausschließlicher Anbindung an den Prüfer:innenkreis von Menschen mit Lernschwierigkeiten und dem Festhalten an einen relativ starren Regelwerk) einer Inklusionsorientierung nicht gleichzeitig entgegensteht und Exklusionsmechanismen in Gang setzten kann, indem durch sie wiederum selbst kategoriale Zuschreibungen hervorgerufen werden (vgl. Zurstrassen, 2017; Bock et al., 2022). [10]

„Leichte Sprache“ hat sich über die Zeit im Gebrauch verändert und befindet sich noch immer in Bewegung, auch wenn die kodifizierten Regelwerke, die seit ihrer Veröffentlichung im Kern konstant blieben, dies zunächst nicht vermuten lassen. Normierungsbestrebungen wie das DIN-Spec-Verfahren, das 2023 abgeschlossen wurde, werden sich vermutlich nur auf ausgewählte Kommunikationsbereiche auswirken. Auch innerhalb des Phänomenbereichs, insbesondere in Abhängigkeit von unterschiedlichen Textsorten und – globaler gesehen – Kommunikationsdomänen, ist „Leichte Sprache“ von Variation geprägt. Bei den vielfältigen Desideraten in Empirie und theoretischer Beschreibung sind die Erforschung mündlicher Interaktion sowie soziolinguistische Fragen sprachlicher Vereinfachung in diesem Bereich sicher mit die prominentesten. [11]

 

 

Literatur:

Antener, Gabriela; Candussi, Klaus; Goldbach, Anne & Sprenger, Kristina (2024). Entwicklung und Bedeutung von Leichter Sprache im gesellschaftlichen Kontext. In Gabriela Antener; Anne Parpan-Blaser; Simone Girard-Groeber & Annette Lichtenauer (Hrsg.), Leichte Sprache Grundlagen, Diskussionen und Praxisfelder (S. 35–47). Stuttgart: Kohlhammer.

 

Bock, Bettina M. & Leskelä, Leealaura (2024). Prinzipien Leichter Sprache – aktuelle Diskussionen in der Forschung. In Gabriela Antener; Anne Parpan-Blaser; Simone Girard-Groeber & Annette Lichtenauer (Hrsg.), Leichte SpracheGrundlagen, Diskussionen und Praxisfelder (S. 48–62). Stuttgart: Kohlhammer.

 

Bock, Bettina M. (2019). „Leichte Sprache“ – Kein Regelwerk. Sprachwissenschaftliche Ergebnisse und Praxisempfehlungen aus dem LeiSA-Projekt. Berlin: Frank & Timme. Verfügbar unter https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa2-319592

 

Bock, Bettina. M. & Pappert, Sandra (2023). Leichte Sprache, Einfache Sprache, verständliche Sprache. Mit Beiträgen von Pirkko Friederike Dresing, Mathilde Hennig und Cordula Meißner. Tübingen: Narr Francke Attempto.

 

Bock, Bettina; Goldbach, Anne & Schuppener, Saskia (2022). Zum Dilemma kategorialer (Re-)Produktion durch Leichte Sprache im Spannungsfeld von Selbstvertretung, Zielgruppenbezug und Differenzherstellung. In Thomas Müller; Christoph Ratz; Roland Stein & Carina Lüke (Hrsg.) (2022), Sonderpädagogik – zwischen Dekategorisierung und Rekategorisierung (198–208). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

 

Bohman, Ulla (2021). Easy Language in Sweden. In Lindholm, Camilla & Vanhatalo, Ulla (Hrsg.), Handbook of Easy Languages in Europe (S. 527–566). Berlin: Frank & Timme.

 

Bredel, Ursula. & Maaß, Christiane. (2016). Leichte Sprache. Theoretische Grundlagen. Orientierung für die Praxis. Berlin: Duden.

 

Freyhoff, Geert; Heß, Gerhard; Kerr, Linda; Menzel, Elizabeth; Tronbacke, Bror & Veken, Kathy van der (1998). Sag es einfach! Europäische Richtlinien für die Erstellung von leicht lesbaren Informationen. Europäische Vereinigung der ILSMH.

 

Lieske, Christian & Siegel, Melanie (2014). Verstehen leicht gemacht. In technische kommunikation (1), S. 44–49.

 

Lindholm, Camilla & Vanhatalo, Ulla (Hrsg.) (2021). Handbook of Easy Languages in Europe. Berlin: Frank & Timme.

 

Lutz, Benedikt (2015). Verständlichkeitsforschung transdisziplinär. Plädoyer für eine anwenderfreundliche Wissensgesellschaft. Göttingen: V&R unipress/ Vienna University Press.

 

Maaß, Christiane (2015). Leichte Sprache. Das Regelbuch. Berlin: Lit Verlag.

 

Mensch Zuerst - Netzwerk People First Deutschland e.V. (Hrsg.) (2008). Neues Wörterbuch für Leichte Sprache.

 

Zurstrassen, Bettina. (2017). Leichte Sprache – eine Sprache der Chancengleichheit? In Bettina Bock; Ulla Fix & Daisy Lange (Hrsg.) (2017), „»Leichte Sprache« “ im Spiegel theoretischer und angewandter Forschung (S. 53–70). Berlin: Frank & Timme.

 

Zitationsvorschlag:

Bock, Bettina & Goldbach, Anne (2024). Leichte Sprache. In Gender Glossar / Gender Glossary (11 Absätze). Verfügbar unter http://gender-glossar.de

 

Peristente URN:


 
Foto Bettina M. Bock

Bock, Bettina M., Prof. Dr.

Institut für deutsche Sprache und Literatur II, Universität zu Köln, Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Text- und Diskurslinguistik, Soziolinguistik, Verständlichkeitsforschung.

 

 


Foto Anne Goldbach

Goldbach, Anne Dr.in

Universität Leipzig, Institut für Förderpädagogik, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Inklusive Bildung und Partizipation im Kontext Geistiger Behinderung

Forschungsschwerpunkte: Inklusionsorientierte Hochschulentwicklung, Leichte Sprache, Künstliche Intelligenz im Kontext von Bildungsgerechtigkeit und -benachteiligung.

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