kurz:erklärt
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Gayatri Chakravorty Spivak (*24.02.1942) gilt als eine der Gründungsfiguren des postkolonialen Feminismus. Sie wurde in Kalkutta geboren und wuchs dort in einem bürgerlichen, privilegierten Milieu auf (Spivak, 1996). 1959 schloss sie ihr Studium in englischer und bengalischer Literatur am Kalkuttaer Presidency College ab. Ihre Promotion führte sie in den 1960er Jahren an die Cornell University, an der sie Jacques Derridas Hauptwerk De la Grammatologie ins Englische übersetzte. Derridas Dekonstruktion der westlichen Philosophietraditionen bleibt über Jahrzehnte ein wesentlicher Bezugspunkt für Spivaks Denken. Es folgten zahlreiche Publikationen zur Dekonstruktion, die Spivak mit feministischen und marxistischen Ansätzen verquickt. Ihr Profil als postkoloniale Theoretikerin gewann sie mit der Veröffentlichung ihres Werkes In Other Worlds – Essays in Cultural Politics (Spivak, 1988b). Nach Stationen an verschiedenen amerikanischen, indischen und europäischen Universitäten ist Spivak seit 2007 Avalon Foundation Professor in the Humanities an der Columbia University in New York. [1]
Während postkoloniale Theoretiker wie Edward Said (1978) und Homi Bhabha (1994) in erster Linie Strukturen der Unterdrückung und Möglichkeiten des Widerstands herausarbeiten (vgl. Heinze, 2015), die ihre Wurzeln im europäischen Kolonialismus haben, weist Spivak auf Widersprüche innerhalb der Nationen des Globalen Südens hin. Dabei fokussiert sie insbesondere auf die problematische Rolle von Geschlechter- und Klassenverhältnissen in postkolonialen Widerstandsbewegungen, auf den Gegensatz zwischen den indischen Eliten und den unteren Bevölkerungsschichten und auf die gewaltsame Unterdrückung von Frauen des Südens. Die Zelebrierung des diasporischen, feministischen Subjekts sowie der postkolonialen Intellektuellen (Spivak, 1990), also letztlich ihrer selbst, betrachtet Spivak mit einer gewissen Ambivalenz, da dadurch die Probleme der unterprivilegierten Mehrheit der Bevölkerung des postkolonialen Südens, die Spivak in Anlehnung an Antonio Gramsci (1891–1937) als subaltern, d. h. als depriviert und marginalisiert, bezeichnet, aus dem Blickfeld geraten. Sie bleibt jedoch dem postkolonialen Feminismus immer auch verpflichtet, da sie die sexistische Eurozentrik westlicher Philosophien (beispielsweise bei Kant und Hegel) offenlegt und auf die damit verbundenen politischen Implikationen hinweist (vgl. Spivak, 1999). [2]
Mit Hilfe einer theoretischen Mélange aus Feminismus, Dekonstruktion und Marxismus untersucht Spivak, ähnlich wie intersektionale Feminist*innen (vgl. Küppers, 2015), Schnittstellen zwischen den Problembereichen Geschlechterdifferenz, race und Klasse (vgl. MacCabe, 1988). Der Unterschied zur Intersektionalitätsdebatte liegt zum einen in Spivaks literaturwissenschaftlichem und textorientiertem Zugang, zum anderen in ihrem geografischen Fokus. Entsprechend gelten viele ihrer Texte den komplexen Unterdrückungsmechanismen, denen Frauen des Südens ausgesetzt sind. In ihrem bekanntesten Essay Can the Subaltern Speak? (Spivak, 1988a) zeigt sie anhand des Verbots der Witwenverbrennung (Sati) durch die englische Kolonialverwaltung, dass die Witwen weder von den Engländern noch von den indischen Eliten in angemessener Weise repräsentiert wurden. Beide Seiten maßten sich an, für diese Frauen sprechen zu können: Die Kolonialverwaltung stellte sie als passive Opfer dar, die man vor ihrer eigenen Kultur schützen müsse, während die nationalistischen Eliten die angebliche Freiwilligkeit des Suizids und den Heroismus der Frauen unterstrichen bzw. behaupteten. Ironischerweise fehlt in diesem Diskurs die Perspektive derjenigen, um die es eigentlich gehen soll: die der betroffenen Frauen. Die Frage, die Spivak mit dem Titel ihres Essays stellt, ist daher rhetorischer Art. Die subalterne Frau kann nicht ‚sprechen‘, da sie weder in nationalistischen noch in kolonialen Diskursen eine eigenständige Stimme erhält. Zudem stellt Spivak in einer komplexen Auseinandersetzung mit Foucault, Deleuze und Derrida die Frage, ob die Behauptung, eine bestimmte soziale Gruppe könnte „für sich selbst sprechen“ (Spivak, 1988a, S. 91) aufgrund der Heterogenität einer solchen Gruppe und der kontingenten Struktur der Sprache möglicherweise eine Fiktion der Linken über sich selbst sei. Aufgrund dieser sprachphilosophischen Annahmen hypostasiert Spivak entsprechend nicht, dass die Frauen der ‚Dritten Welt‘ zu passiv seien, um sich selbst zur Wehr zu setzen. Vielmehr argumentiert sie, dass Sprechen bedeute, im soziolinguistischen Sinne einen Sprechakt zu vollziehen. Dazu gehöre, dass die Botschaft der Sprechenden auch von den Adressierten verstanden werde, was hier nicht der Fall sei. Da es sich nicht nur um ein harmloses Kommunikationsproblem, sondern um eine Frage der politischen Handlungsfähigkeit handelt, bezeichnet Spivak dieses Phänomen auch als epistemische Gewalt (epistemic violence) (Spivak, 1988a, S. 70), der insbesondere subalterne Frauen des Globalen Südens ausgesetzt sind. Spivak spielt hier mit der Doppeldeutigkeit des englischen Lexems representation, das sich sowohl mit (auf politisch-juristische Weise) Vertreten als auch mit (auf ästhetische, bzw. literarische Weise) Darstellen übersetzen lässt. Im Sinne dieser Doppeldeutigkeit der Repräsentation haben Spivak zufolge postkoloniale Feministinnen die politische Aufgabe, auf vorsichtige, selbst-reflexive Weise zu Fürsprecherinnen der subalternen Frau zu werden sowie Räume zu schaffen, in denen die subalterne Frau sprachmächtig werden kann. [3]
Bekannt vor allem als postkoloniale Theoretikerin wird Spivak auch als „marxistisch-feministische Dekonstruktivistin“ (MacCabe, 1988, S. xi) bezeichnet. Diese Charakterisierung ist sowohl zutreffend als auch missverständlich: zutreffend, weil Spivak tatsächlich auf diese drei Denkrichtungen zurückgreift; missverständlich insofern, als Spivak nicht versucht, eine Synthese aus diesen recht unterschiedlichen theoretischen Ansätzen herzustellen. Vielmehr sucht sie nach Wegen, wie sich diese Traditionen gegenseitig unterbrechen (interrupt) oder in eine produktive Krise bringen lassen („bring each other into a productive crisis“, Spivak, 1988b, S. 241). So übernimmt Spivak von Marx zwar jene theoretischen Elemente, die zu einem besseren Verständnis globaler sozialer Differenzierung und den daraus resultierenden Ausbeutungsphänomenen dienen, sie behält sich jedoch vor, auch marxistische Texte einer dekonstruktivistischen Lektüre und einer feministischen Kritik zu unterziehen. Umgekehrt weist Spivak darauf hin, dass Dekonstruktion kein politisches Programm begründen könne, sondern der Ergänzung durch feministische und marxistische Perspektiven bedürfe (Spivak, 1990, S. 104). Aufgrund der dekonstruktivistischen Einsicht, dass man Denkgebäude, die man kritisiert, notwendigerweise auch bewohnen müsse, schlug Spivak in ihrem Aufsatz French Feminism in an International Frame (Spivak, 1981) vor, in bestimmten Kontexten – wie beispielsweise in der Diskussion um weibliche Genitalverstümmelung – essenzialistische Diskurse strategisch zu verwenden. Sie warnte allerdings bereits in diesem frühen Text davor, die rein strategische Gestalt dieses Vorhabens aus den Augen zu verlieren, da sonst der strategische Essenzialismus schnell in ‚echten‘ Essenzialismus einfrieren könne. [4]
In den letzten Jahrzehnten beschäftigte sich Spivak zunehmend auch mit Fragen der Möglichkeiten und Grenzen einer politisch engagierten Pädagogik (Spivak, 1993, 2012) bzw. mit der problematischen eurozentrischen Geschichte und der prekären Zukunft der eigenen akademischen Disziplin, d. h. der Komparatistik (Spivak, 2003, 2012). Der Titel ihrer Aufsatzsammlung An Aesthetic Education in an Era of Globalization (2012) spielt auf Schillers Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen (Schiller, 2013 [1795]) an, die selbst eine Auseinandersetzung mit dem Primat der Vernunft in der Aufklärung darstellt. Spivak verwendet die Denkfigur des double bind – der paradoxen Handlungsaufforderung – als Modell dafür, wie sich Literaturwissenschaft nach der Kritik der Euro- und Androzentrik der Philologien praktizieren lasse (Spivak, 2012, S. 1, S. 104–105). Denn einerseits kann Literatur auf lokale Missstände hinweisen, die im globalisierten akademischen Diskurs vergessen werden (Spivak, 2012, S. 369), und durch das Entwerfen fiktionaler Räume die Imagination erweitern (Spivak, 2003, S. 10), andererseits sind sowohl Philologien als auch der Literaturbetrieb in den Horizont der Kanon- und Elitenbildung eingelassen, der wiederum nationalistische, patriarchale und klassenspezifische Charakteristika aufweist. Aus diesen Widersprüchen heraus dennoch eine ästhetische Bildung zu betreiben, die in Zeiten neoliberaler Verwertungslogik für obsolet erklärt wird, ist laut Spivak eine Quelle der Hoffnung für die Humanwissenschaften (Spivak, 2012, S. 316). [5]
Spivaks Arbeiten haben im feministischen Kontext großen Widerhall gefunden (Morton, 2003). Entsprechend sind postkoloniale Ansätze fester Bestandteil der Geschlechterforschung geworden. Umgekehrt hat sie dem Postkolonialismus eine entscheidende feministische Wendung gegeben. Ihr Einfluss auf den „Feminismus der Dritten Welt […], marxistische Theorie, subaltern studies und Philosophien der Alterität“ (Butler, 1999) ist laut Judith Butler immens. Ihre Rede vom strategischen Essenzialismus wurde in den Jahrzehnten nach der Veröffentlichung von French Feminism (Spivak, 1981) so häufig rezipiert, dass sich Spivak selbst immer wieder davon distanzierte (vgl. u. a. Spivak, 1999). Auf Einwände stößt sie wegen ihres methodischen Eklektizismus und der mangelnden ethischen Fundierung ihrer Theorie. Spivak, so die Kritik, beklage die Marginalisierung der Frau der Dritten Welt durch hegemoniale Diskurse, sie würde jedoch gleichzeitig ausschließen, dass die Frauen eine eigene authentische Gegengeschichte schreiben könnten (vgl. Eagleton, 1999; Parry, 1987). Diese Tendenz zur Eskamotierung des handlungsfähigen Subjekts wirke letztlich politisch lähmend (vgl. jedoch Castro Varela & Dhawan, 2006). Von marxistischer Seite wird häufig angemerkt, dass sie zwar die globale Wirtschaftsordnung anprangere, sich jedoch nicht zu einer sozialistischen Alternative oder mindestens zu sozialdemokratischen Reformen bekenne. Terry Eagleton (1999) sieht sie daher als prototypisch für eine orientierungslose Linke (directionless Left) an. Die zum Teil überaus polemischen Angriffe verdeutlichen jedoch nicht zuletzt Spivaks hohen Stellenwert innerhalb feministischer (und anderer) Theoriedebatten (zur Rezeption Spivaks vgl. auch Morton, 2003, S. 134–141; Nandi, 2009, S. 121–123). [6]
Literatur:
Bhabha, Homi K. (1994). The Location of Culture. London: Routledge.
Butler, Judith (1999). Letter to the Editor in Response to Terry Eagleton’s ‘In the Gaudy Supermarket’. London Review of Books, 21 (13). Verfügbar unter https://www.lrb.co.uk/v21/n10/terry-eagleton/in-the-gaudy-supermarket
Castro Varela, María do Mar & Dhawan, Nikita (2014). Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung (Cultural studies, Bd. 12, 2. überarbeitete und aktualisierte Auflage). Bielefeld: transcript.
Eagleton, Terry (1999). In the Gaudy Supermarket. London Review of Books, 21 (10). Verfügbar unter https://www.lrb.co.uk/v21/n10/terry-eagleton/in-the-gaudy-supermarket
Heinze, Franziska (2015). Postkoloniale Theorie. In Gender Glossar / Gender Glossary (5 Absätze). Verfügbar unter http://gender-glossar.de
Küppers, Carolin (2014). Intersektionalität. In Gender Glossar / Gender Glossary (5 Absätze). Zugriff am 14.02.2017. Verfügbar unter http://gender-glossar.de
MacCabe, Colin (1988). Foreword. In G. C. Spivak (Ed.), In Other Worlds. Essays in Cultural Politics (pp. ix–xx). London: Routledge.
Morton, Stephen (2003). Gayatri Chakravorty Spivak. London: Routledge.
Nandi, Miriam (2009). Gayatri Chakravorty Spivak. Eine interkulturelle Einführung (Interkulturelle Bibliothek). Nordhausen: Traugott Bautz.
Parry, Benita (1987). Problems in Current Theories of Colonial Discourse. Oxford Literary Review, 9 (1-2), S. 27–58.
Said, Edward W. (1978). Orientalism. New York: Pantheon Books.
Schiller, Friedrich (2013). Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen. Stuttgart: Reclam (Originalarbeit erschienen 1795).
Spivak, Gayarti Chakravorty (1981). French Feminism in an International Frame. Yale French studies, 62, pp. 154–184. doi: 10.2307/2929898.
Spivak, Gayarti Chakravorty (1988a). Can the Subaltern Speak? In C. Nelson & L. Grossberg (Eds.), Marxism and the interpretation of culture (pp. 66–111). Urbana: University of Illinois Press.
Spivak, Gayatri Chakravorty (1988b). In Other Worlds. Essays in Cultural Politics. London: Routledge.
Spivak, Gayatri Chakravorty (1990). The Post-colonial Critic. Interviews, Strategies, Dialogues. New York: Routledge.
Spivak, Gayatri Chakravorty (1993). Outside in the Teaching Machine. New York: Routledge.
Spivak, Gayarti Chakravorty (1996). Bonding in Difference: An Interview with Alfred Arteaga. In D. Landry & G. M. MacLean (Eds.), The Spivak Reader. Selected Works of Gayatri Chakravorty Spivak (pp. 15–28). New York: Routledge.
Spivak, Gayatri Chakravorty (1999). A Critique of Postcolonial Reason. Toward a History of the Vanishing Present. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.
Spivak, Gayatri Chakravorty (2003). Death of a Discipline (The Wellek Library Lectures). New York: Columbia University Press.
Spivak, Gayatri Chakravorty (2012). An Aesthetic Education in the Era of Globalization. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.
Zitationsvorschlag:
Nandi, Miriam (2018). Gayatri Chakravorty Spivak. In Gender Glossar / Gender Glossary (6 Absätze). Verfügbar unter http://gender-glossar.de
Persistente URN:
urn:nbn:de:bsz:15-qucosa2-312618 (Langzeitarchiv-PDF auf Qucosa-Server)
Prof. Dr. Miriam Nandi
geb. 04.11.1974
Institut für Anglistik, Universität Leipzig
Arbeitsschwerpunkte/Forschungsinteressen: Postkolonialer Feminismus, anglophone indische Literatur, life writing
miriam.nandi@uni-leipzig.de; https://www.uni-leipzig.de/en/profile/mitarbeiter/prof-dr-miriam-nandi
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