Pierre Bourdieu (1930-2002) war ein französischer Soziologie, der von 1981 bis 2001 einen Lehrstuhl für Soziologie am Collège de France innehatte. Die Entwicklung seines umfassenden Werks und die Entfaltung seiner soziologischen Perspektive sind eng mit seiner Lebensgeschichte verknüpft, wie es Bourdieu auch in seinem „Soziologischen Selbstversuch“ (vgl. Bourdieu, 2002) veranschaulicht hat. Geboren in einem kleinen Dorf am Fuße der Pyrenäen gelang Bourdieu der soziale Aufstieg in eine der renommiertesten Universitäten Frankreichs, der École normale supérieure de Paris, an der er 1954 seine Agrégation in Philosophie ablegte. Während seines Wehrdiensts im algerischen Befreiungskrieg ab Mitte der 1950er Jahre unternahm Bourdieu erste Untersuchungen zur Genese ökonomischer Haltungen und deren sozialer Bedingtheit (Bourdieu, 2000, S. 21). Mit diesen Studien wendete er sich zunehmend von der Philosophie ab und gelangte über die Ethnologie zur Soziologie. Bourdieu arbeitete mit einem breiten methodischen Spektrum und in meist großen Forschungsgruppen. Seine wissenschaftliche Vorgehensweise ist durch eine enge Verflechtung von Theorie und Empirie charakterisiert – theoretische Vorüberlegungen fundieren die empirischen Erhebungen, welche wiederum zur Weiterentwicklung und Modifikation der theoretischen Annahmen und für Generalisierungen dienen. Daher sind seine zentralen Konzepte und Begriffe wie Habitus und Feld als die „zwei Zustände des Sozialen“ (Bourdieu, 2001, S. 193), sozialer Raum und Kapital, die der Untersuchung der Klassenverhältnisse zugrunde liegen (vgl. Suderland, 2009b), nicht als eindeutig festgelegt und definiert zu verstehen, sondern als in verschiedenen Kontexten einsetzbare soziologische Erkenntniswerkzeuge (vgl. Krais, 2004, S. 173; Brubaker, 1993). [1]
Das Erkenntnisinteresse von Bourdieu zielt nicht auf die klassisch-soziologische Frage, wie in hochgradig differenzierten Gesellschaften sozialer Zusammenhalt hergestellt und verstetigt werden kann. Vielmehr erstaunen ihn die relative Stabilität der sozialen Welt (Bourdieu verwendet nicht den Begriff der Gesellschaft) und der weitgehend reibungslose Ablauf der sozialen Praxis. Die soziale Welt versteht er als einen „Ort ständiger Kämpfe um den Sinn dieser Welt“ (Bourdieu & Wacquant, 2006, S. 101). In den sozialen Aushandlungsprozessen bringen die Akteure Klassifikationen und Differenzsetzungen hervor, durch die sie die Bedingungen für Anerkennung und ebenso für die Verweigerung von Anerkennung schaffen – womit sie letztlich dem Leben Sinn verleihen und Existenz gewinnen (vgl. Bourdieu, 2001, S. 309; Wacquant, 2003, S. 65). Vor diesem Hintergrund fragt Bourdieu, wie in der sozialen Praxis über Akte des Klassifizierens Herrschafts- und Machtverhältnisse konstituiert und perpetuiert werden. Herrschaft umfasst für Bourdieu sowohl die symbolische Dimension der „Sichtweisen der Welt“ und der „Selbstverständlichkeiten unseres Denkens“ (Krais & Gebauer, 2002, S. 10) als auch die Ebene der sozialen Praktiken. Die Soziologie hat somit das Selbstverständliche und Alltägliche, das scheinbar Gegebene und Natürliche zu untersuchen. Voraussetzung hierfür ist der Bruch mit dem common sense, wofür Bourdieu „die Sozialgeschichte der Probleme, Objekte und Denkwerkzeuge“ als eines „der mächtigsten Instrumente“ erachtet. Damit meint er die „Geschichte der gesellschaftlichen Arbeit der Konstruktion der Instrumente zur Konstruktion der sozialen Realität“ (Bourdieu & Wacquant, 2006, S. 271). [2]
Den zentralen Mechanismus für die Beständigkeit der sozialen Verhältnisse findet Bourdieu im Phänomen der symbolischen Gewalt, das den ‚Fluchtpunkt‘ seines soziologischen Werks bildet (vgl. Bongaerts, 2008, S. 31; Krais, 2004, S. 178). Der Begriff symbolisch bezieht sich auf die Sichtweisen und Vorstellungen von der Welt, auf die unhinterfragten Selbstverständlichkeiten und Gewissheiten, also auf alles, was als natürlich und gegeben erscheint. Gewaltförmig ist das Symbolische, weil die in der sozialen Praxis hervorgebrachten und reproduzierten Herrschaftsverhältnisse durch die doxa, dem ‚Verwachsensein‘ der Akteure in der Welt (Bourdieu, 2009, S. 327), als solche verkannt werden, folglich das Willkürliche als das Natürliche und Selbstverständliche anerkannt wird. Die sozialen Strukturen erhalten ihre soziale Wirkmächtigkeit durch die Inkorporierung vermittels des Habitus, der die doxa erzeugt, weswegen die Strukturen in Form von Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata in den Dingen, Körpern und Köpfen sind (vgl. Barlösius, 2006, Kap. 4). Die symbolische Herrschaft wird in der sozialen Praxis – in Form der symbolischen Gewalt – konstituiert, reproduziert, als solche nicht erkannt und durch die Beherrschten mitgetragen. Es handelt sich um Herrschaftsmechanismen, „die mit dem Zwang und der Gewalt des Selbstverständlichen, Alltäglichen und Unbewussten operieren“ (Jäger, König & Maihofer, 2012, S. 19). Als Beispiel schlechthin für die symbolische Gewalt benennt Bourdieu die „Männliche Herrschaft“ (Bourdieu, 2005, S. 8). Mit diesem Konzept hat Bourdieu keine genuine Geschlechtertheorie vorgelegt, sondern wendet seine soziologischen Erkenntniswerkzeuge auf das soziale Phänomen der Geschlechterklassifikation in weiblich und männlich an, also auf soziale Differenzierungsprozesse der Vergeschlechtlichung und die damit einhergehende Produktion und Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen. [3]
Die Rezeption der „Männlichen Herrschaft“, zunächst 1990 als Aufsatz (dt.: Bourdieu, 1997) und 1998 erweitert als Monographie (dt.: Bourdieu, 2005) veröffentlicht, ist in der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung bis heute zurückhaltend. Meist wird das Konzept der Männlichen Herrschaft hinsichtlich seiner Anschlussfähigkeit an die Frauen- und Geschlechterforschung diskutiert (vgl. Dölling, 2004; Dölling, 2009; Jäger, König & Maihofer, 2012; Krais, 2011; Schlüter & Faulstich-Wieland, 2006), während lediglich vereinzelte Studien analytisch daran anschließen (König, 2012; Suderland, 2009a; Völker, 2004; Zimmermann, 2000). Des Weiteren finden sich einige Untersuchungen, die das soziologische Instrumentarium Bourdieus aufgegriffen haben (vgl. Engler, 2003; Engler, 2010): beispielsweise das Habitus-Konzept für die Analyse der Herstellung von Männlichkeiten (Meuser, 2006), eine Erweiterung des Sozialraum-Konzepts um die Kategorie Geschlecht (Frerichs, 2000) sowie eine Studie zu Schönheitspraktiken und Geschlecht im Anschluss an Bourdieus „Die feinen Unterschiede“ (Penz, 2010). Besonders instruktiv sind die Untersuchungen zu Prozessen der Vergeschlechtlichung in der Wissenschaft, in denen das Habitus- und das Feldkonzept in ihrer Verschränkung Anwendung finden (vgl. Beaufaÿs, 2003; Beaufaÿs & Krais, 2005; Engler, 1993; Engler, 2001; Krais, 2008). Eine „Rezeptionssperre gegenüber Bourdieu“ (Krais, 2001, S. 318) durch die Frauen- und Geschlechterforschung lässt sich in dieser Härte nicht mehr konstatieren, gleichwohl wird der Bourdieusche „Werkzeugkasten“ (Dölling & Krais, 2007, S. 12) bisher nicht ausgeschöpft. [4]