Die Männliche Herrschaft ist ein soziologisches Konzept von Pierre Bourdieu (1930-2002) zur Untersuchung der sozialen und symbolischen Kräfteverhältnisse zwischen den Geschlechtern (vgl. Bourdieu, 1997a, 1997b, 2001, 2005a). Im Mittelpunkt stehen soziale Klassifikationsprozesse auf der Ebene der sozialen Praxis, deren Resultat die als natürlich und legitim erscheinende „binär-hierarchisch heteronormative Einteilung der Menschen in zwei entgegengesetzte Geschlechter“ (Jäger, König & Maihofer, 2012, S. 20) ist. Die Männliche Herrschaft stellt für Bourdieu die „paradigmatische Form der symbolischen Herrschaft“ (Bourdieu & Wacquant, 2006, S. 208) dar. Es handelt sich nicht um eine genuine Geschlechtertheorie, vielmehr wendet Bourdieu seine soziologischen Erkenntniswerkzeuge (vor allem die Konzepte des Habitus und der symbolischen Gewalt) auf das Phänomen Geschlecht an (zur Anwendung auf die Prozesse der Rassifizierung und Ethnisierung vgl. Brubaker, 2009; Wacquant, 2001, 2008). Bourdieu interessieren die sozialen Mechanismen der Naturalisierung, also wie es zu einer „Enthistorisierung und […] relative[n] Verewigung der Strukturen der Geschlechterteilung“ (Perrot, Sintomer, Krais & Bourdieu, 2002, S. 300) kommt (vgl. Bourdieu, 2005a, S. 43). [1]
Das Konzept entwickelt Bourdieu auf der Grundlage ethnologischer Studien zur kabylischen Gesellschaft, die er in den 1960er Jahren in Algerien durchführte. Die Ethnologie diente ihm als Erkenntnisinstrument, das den Bruch mit dem Vertrauten, mit dem common sense erlaubt, um das System der „Prinzipien der sozialen Gliederung (di-vision) und […] eine[r] bestimmte[n] Vorstellung (vision) von der sozialen Welt“ (Bourdieu, 2005b, S. 122; Hervorhebung im Original) aufzudecken. Bourdieu zeigt, wie der Habitus vergeschlechtlichte Konstruktionen der Welt und des Körpers erzeugt, indem er als „Speicher von vergeschlechtlichten Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien“ und Schemata fungiert (Bourdieu, 1997a, S. 167). Der Habitus stellt eine theoretische Hilfskonstruktion dar. Er wird durch die objektiven, sozialen Strukturen strukturiert und ist zugleich das Erzeugungsprinzip der sozialen Praxis, wodurch beide Ebenen miteinander verschränkt sind. Zwar konstruieren die Akteure die soziale Welt, aber diese Konstruktionen sind voraussetzungsreich, weswegen die soziale Praxis als strukturierter Möglichkeitsraum verstanden wird. Daraus lässt sich eine analytische Unterscheidung hinsichtlich des Begriffs Geschlecht ableiten. Zum einen ist Geschlecht mit Bourdieu als ein soziales Strukturprinzip und zum anderen als ein Klassifikationsprinzip der sozialen Praxis zu verstehen. Mit sozialen Strukturprinzipien sind die objektiven Strukturen, die Vorstellungen von der sozialen Welt (vision), der common sense gemeint. Strukturprinzipien wie Geschlecht werden vermittels des Habitus inkorporiert und zu „vergeschlechtlichten Dispositionen“ (Bourdieu, 1997a, S. 173), die als (Geschlechts-)Klassifikationen die soziale Praxis erzeugen und ihren Ausdruck in vergeschlechtlichten Körpern, Haltungen, Empfindungen, Wahrnehmungen usw. finden. ‚Weiblichkeit‘, bestimmt als Wahrgenommensein, und ‚Männlichkeit‘, entworfen als das allgemein Menschliche, fungieren hierbei als die beiden relational aufeinander bezogenen und als legitim anerkannten Ausprägungen der vergeschlechtlichten und vergeschlechtlichenden Klassifikationen. Der in der Geschlechterforschung verschiedentlich verwendete Begriff des Geschlechtshabitus erscheint deshalb eher als irritierend oder gar „nachlässig“ (Krais, 2011, S. 39). [2]
Die geschlechtsspezifisch konstituierten und konstituierenden Schemata des Habitus führen zum selbstverständlichen und unhinterfragten Bewegen in der sozialen Welt, woraus die scheinbare Evidenz und Natürlichkeit der Einteilung in männlich und weiblich resultiert. Den entscheidenden Mechanismus der Männlichen Herrschaft findet Bourdieu also in der Verkörperung resp. „Somatisierung der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse“ (Bourdieu, 2005a, S. 45). Hiermit ist gerade nicht gemeint, dass der Körper (bzw. die Natur) das Geschlecht vorgibt. Vielmehr führt die praktische Konstruktionsarbeit zur „Vergesellschaftung des Biologischen und Biologisierung des Gesellschaftlichen in den Körpern und in den Köpfen“ (Bourdieu, 2005a, S. 11). Erst durch den Prozess der Somatisierung wird die Geschichte in Natur, das kulturell Willkürliche in (scheinbar) Natürliches verwandelt. Die Legitimität der Männlichen Herrschaft resultiert daraus, dass die Herrschaftsbeziehung einer biologischen Natur eingeschrieben ist, „die selbst eine naturalisierte soziale Konstruktion ist“ (Bourdieu, 1997b, S. 94). [3]
Mit dem Konzept der Männlichen Herrschaft hat Bourdieu einen analytischen Schwerpunkt auf das Zusammenspiel von Habitus und symbolischer Ordnung gelegt, dessen Resultat die scheinbar binäre und natürliche Geschlechtereinteilung ist. In der Frauen- und Geschlechterforschung wird insbesondere die damit verbundene These von einer „Permanenz im und durch den Wandel“ (Bourdieu, 2005a, S. 159) kritisch diskutiert, die auf eine Kernfrage der feministischen Patriarchatskritik nach Kontinuität und Wandel gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse zielt (vgl. Fowler, 2007; König, 2012; Jäger, König & Maihofer, 2012; zum Patriarchatsbegriff vgl. Cyba, 2010). Ebenso wird das Konzept in der Männer- bzw. Männlichkeitsforschung breit rezipiert, die vor allem die Konstitution von Männlichkeiten und die damit einhergehende Abgrenzung zu Weiblichkeitsvorstellungen aufgezeigt hat (vgl. Gildemeister & Hericks, 2012, S. 242; Tunç, 2012). [4]