Die soziologische Disziplin zeichnete sich in ihren Anfängen seit Ende des 19. Jahrhunderts, ähnlich wie viele Wissenschaftsdisziplinen, durch eine geringe Aufmerksamkeit gegenüber der Kategorie Geschlecht aus. Die wenigen Soziologinnen, welche in der Anfangszeit Geschlecht thematisierten, wendeten sich dem unterdrückten weiblichen Geschlecht zu (Hering, 2008). Einzig Georg Simmel (1858-1918) wies in seinen Analysen bereits darauf hin, dass „im geschichtlichen Leben unserer Gattung die Gleichung: objektiv = männlich [besteht]“ (Simmel, 1985, S. 200). So nahmen die Soziologen meist nur den Mann in den Blick, den sie als Repräsentant des „schlechthin Allgemeine[n]“ (Simmel, 1985, S. 214) verstanden. Dieses Phänomen wurde erst in den 1970er Jahren mit dem Entstehen der Frauenforschung öffentlich thematisiert und skandalisiert (vgl. Mies, 1978). In der Folge entstand eine Reihe von empirischen Untersuchungen und theoretischen Konzepten, die sich den Lebenswelten, Sichtweisen und Identitätsentwürfen von Frauen näherten. Diese Arbeiten waren mit „mehr oder minder explizit gemachten Annahmen über den Mann und Männlichkeit“ (Meuser, 2006a, S. 11) verbunden. Dass dieser Blick oftmals einseitig war, wurde Mitte der 1980er Jahre in der Frauenforschung kritisiert. In der Folge entstand eine Debatte zu der Frage, ob und wie Männer und Männlichkeit Gegenstand der feministischen Forschung sein könnten, diese Diskussion brach jedoch Ende der 1980er Jahre ab (Bereswill, Meuser & Scholz, 2009). [1]
Insbesondere durch Impulse der internationalen Forschung etablierte sich in den deutschsprachigen Ländern ab den 1990er Jahren eine Männlichkeitsforschung. In ihrem Aufsatz „Ansätze zu einer neuen Soziologie der Männlichkeit“ hatten die australischen Soziolog_innen Tim Carrigan, Raewyn Connell und John Lee (1996 [1985]) bereits Mitte der 1980er Jahre für die Etablierung einer solchen plädiert. Dieser Aufsatz kann als ein wichtiger Schritt hin zur Institutionalisierung einer Forschung über Männer und Männlichkeiten angesehen werden, die in den USA und Großbritannien bereits in den 1980er Jahren einsetzte (Kimmel, Hearn & Connell, 2005). Auch im deutschsprachigen Kontext avancierte das mit dem Namen Connell (1999) verbundene Konzept der hegemonialen Männlichkeit zu einer „Leitkategorie“ (Meuser, 2006b, S. 160) der Männlichkeitsforschung. Obgleich der unscharfe Begriff viel Kritik hervorgerufen hat (Meuser & Scholz, 2005), sind zwei Erkenntnisse für die Männlichkeitsforschung bis heute zentral: Männlichkeit wird als plural und variabel theoretisiert und konsequent mit einem Macht- und Herrschaftskonzept verbunden. Auf der konzeptionellen Ebene bilden neben Connell die Herrschaftstheorie von Pierre Bourdieu (2005) sowie die Verknüpfung beider Ansätze insbesondere durch Michael Meuser (2006a) die Grundlage für unterschiedliche empirische Untersuchungen in den klassischen Bereichen der Frauenforschung wie Erwerbsarbeit, Sozialisation, Gewalt oder Familie, aber auch in den neueren Feldern der Geschlechtersoziologie wie Heteronormativität, Migration oder Körper (Bereswill et al., 2009). [2]
In den 2000er Jahren wird in den Men’s Studies die Frage der Globalisierung hegemonialer Männlichkeit diskutiert. In den transnationalen Räumen in der Ökonomie, aber auch den Medien und der Politik bildete sich eine „world gender order“ (Connell, 2005, S. 72) heraus, die in komplexen Beziehungen zu den nationalen, aber auch regionalen Geschlechterordnungen steht. Erforscht wird, welche Geltungskraft und welche konkreten Ausformungen die von Connell in die Debatte gebrachte „transnational business masculinity“ (Connell, 2005, S. 77) hat (Hearn, Blagojevic & Harrison, 2013). In den aktuellen deutschsprachigen Debatten wird die Frage erörtert, ob das Konzept der hegemonialen Männlichkeit angesichts verschiedener gesellschaftlicher Transformationsprozesse ein „Auslaufmodell“ (Meuser, 2010, S. 415) darstellt. Einerseits kommt es im Erwerbssystem zu einem Abbau des männlichen Normalarbeitsverhältnisses und einer allgemeinen Prekarisierung von Erwerbsarbeit, andererseits unterliegt auch der Bereich der privaten Lebensformen vielfachem Wandel, Stichworte sind hier: Monopolverlust der Ehe, Pluralisierung und Individualisierung. Verhandelt wird darüber hinaus, inwieweit es tatsächlich nur eine hegemoniale Männlichkeit gibt, ob nicht auch von hegemonialen Männlichkeiten im Plural zu sprechen ist, und wie Weiblichkeit besser, als dies bisher der Fall ist, in das Männlichkeitskonzept integriert werden kann (Meuser, 2010; Scholz, 2012). [3]
Mit diesen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen hängt zusammen, dass Männlichkeit auch in anderen Feldern der Soziologie allmählich zu einem Thema wird (Scholz, 2012, S. 10). Dies betrifft die Arbeits- und Industriesoziologie, in der etwa Klaus Dörre (2007) die mit dem Prozess der Prekarisierung von Erwerbsarbeit entstehende Verunsicherung des männlichen Habitus untersucht. Auch in der Familiensoziologie wird das „vernachlässigte Geschlecht“ (Tölke & Hank, 2005) entdeckt und über Familienbildung, Vaterschaft, aber auch über Kinderlosigkeit aus einer männlichen Perspektive heraus debattiert. Zu nennen ist auch die interdisziplinär angelegte Väterforschung, die sich seit den 1990er Jahren etabliert hat (Walter & Eickhorst, 2012). Die Kategorie Männlichkeit wird jedoch oftmals nicht einbezogen; umgekehrt war Vaterschaft lange Zeit in der Männlichkeitsforschung kein Thema (Scholz, 2012). Erst in jüngster Zeit wird das Thema Männlichkeit auch auf das Feld der Reproduktion bezogen, das in der modernen Geschlechterordnung als genuin weiblicher Tätigungsbereich galt, und es werden Fragen der männlichen Beteiligung an Fürsorge (Care), an Generativität und der sozialen Reproduktion gestellt (Heilmann, Jähnert, Schnicke, Schönwetter & Vollhard, 2015). [4]
Wurde in den 1990er Jahren zunächst für die Entwicklung einer eigenständigen Soziologie der Männlichkeit plädiert, so hat sich in den 2000er Jahren die Argumentation hin zu einer Männlichkeitsforschung als Bestandteil der Geschlechtersoziologie verschoben (vgl. Meuser, 2006a; Scholz, 2012). Eine genuin soziologische Perspektive bedeutet, weniger den Blick auf Männer zu richten; analysiert werden stattdessen Männlichkeiten im Kontext von Geschlechterverhältnissen. Entgegen der Entgrenzungsdynamiken in den Geschlechterverhältnissen ist Männlichkeit noch immer ein „zentrales Ordnungsmerkmal“ (Meuser, 2012, S. 17) der Gesellschaft. In einer Männlichkeitsforschung als Bestandteil der Geschlechtersoziologie können sowohl die begriffliche und konzeptionelle Arbeit weiter vorangetrieben als auch die immer noch bestehenden „erheblichen empirischen Forschungslücken“ (Scholz, 2014, S. 214) nach und nach gefüllt werden. Dabei kann eine interdisziplinäre Zusammenarbeit die soziologische Perspektive gewinnbringend erweitern (vgl. Heilmann et al., 2015). [5]