Religion ist wie Politik, Recht, Wirtschaft, Kunst etc. ein Teilbereich von Kultur und kann als umfassendes Orientierungs- bzw. Sinngebungssystem mit Transzendenzbezug definiert werden. Im Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Religion steht der Mensch als Subjekt religiöser Erfahrungen, als Individuum und Teil einer Gemeinschaft, in der Vielfalt religiöser Rollen und Ausdrucksformen (Aktivität, Verbalität, Materialität). Obwohl Diversitätskategorien wie Schicht, Alter oder Ethnie für die Konzepte des religiösen Menschen wichtig sind, kommt Gender eine herausragende Bedeutung zu. Gender und Religion sind eng miteinander verflochten (King, 1995; Heller, 2003; King, 2005; Franke & Maske, 2012): Religiöse Traditionen, Anschauungen, Symbole und Praktiken sind nicht nur geschlechtsspezifisch geprägt, sondern Geschlechterrollen, Stereotype und Ideale werden religiös untermauert und sanktioniert. Religion spielt eine Schlüsselrolle für die Legitimation gesellschaftlicher Ordnung und – insofern Gender das fundamentale Organisationsprinzip sozialer Ordnung bildet – besonders von Geschlechterordnungen. [1]
In den Anfängen der Religionswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der homo religiosus, der religiöse Mensch, als vermeintlich geschlechtsneutrale Kategorie entworfen. Erst mit der Einführung der Kategorie Gender in die Religionswissenschaft ist eine Forschungsperspektive gewonnen, die als bedeutungsvoller Wendepunkt zu betrachten ist (King, 1990, S. 275). Dadurch wurden Auswahl und Interpretationen religionsgeschichtlicher Fakten, die in der traditionellen Religionsforschung zu allgemeinen Aussagen über den religiösen Menschen führten, als Resultate androzentrischer Standpunkte erkennbar (Gross, 1977, S. 7–12; Warne, 2000, S. 255–257; Heller, 2010, S. 137–140). So hat beispielsweise der einflussreiche Religionshistoriker Mircea Eliade das Material über männliche Initiationsriten für grundlegende Aussagen über das generelle Wesen und die Bedeutung der Initiation für den religiösen Menschen verwendet (vgl. Eliade, 1965 und die Analyse von Saiving, 1976). Ende der 1970er Jahre begann unter dem Einfluss der kritisch-feministischen Theorie eine zunächst frauen- und später genderbewusste Auseinandersetzung mit Religion (Juschka, 2001; Hawthorne, 2005, S. 3311–3313). In den wenigen frühen Studien zum Thema ‚Frau‘ (u. a. Meyer, 1915; Heiler, 1977) wurden Frauen weitgehend als Forschungsobjekte behandelt, vergleichbar mit besonderen Phänomenen wie heiligen Bäumen oder Totemtieren. Als religiöse Subjekte kamen Frauen erst im Rahmen der religionswissenschaftlichen Frauenforschung zur Sprache, wobei deren Fokus zunächst auf dem Christentum und Judentum lag. Im Laufe der 1980er Jahre weitete sich das Interesse auf alle religiösen Traditionen aus; seither sind viele Spezialstudien entstanden. Seit den 1990er Jahren entwickelt sich auch eine religionswissenschaftliche Männerforschung, wobei sich die bis heute vergleichsweise wenigen Studien in der Analyse und Kritik von normativen Männlichkeitsmodellen und Formen männlicher Spiritualität vorwiegend mit christlichen und jüdischen Traditionen befassen (vgl. Heller, 2002; Krondorfer & Culbertson, 2005; Brinkschröder, 2010). Die Einsicht in die unzulässige Universalisierung der Kategorie ‚Frau‘, die wesentlich der post-kolonialen Theoriebildung zu verdanken ist, hat dazu geführt, dass seit den 2000er Jahren auch nicht-westliche Perspektiven (King & Beattie, 2005) in die europäisch-nordamerikanisch dominierte Religionsforschung einbezogen werden und die Intersektionalität der Kategorien Gender, Ethnizität, Schichtzugehörigkeit und Alter berücksichtigt wird. Ansätze der Queer- bzw. LGBTIQ+ Studies, die ebenfalls seit den 2000er Jahren in der Religionswissenschaft rezipiert werden (Wilcox, 2006; Brintnall, 2013; Heller, 2017), können an die in vielen Religionen verbreiteten Phänomene der Androgynie (etwa auf der Ebene göttlicher Symbolik: O’Flaherty, 1990) oder des Geschlechtswechsels (von Gottheiten oder Menschen in religiösen Rollen: Ramet, 1996) anknüpfen. [2]
Aus der Vielfalt der Zugänge zum Thema Gender und Religion erweisen sich insbesondere die ‚großen‘ Religionen der Gegenwart als relevant, da diese, v. a. in Bezug auf die Rollen und Beziehungen von Frauen und Männern, die aktuellen öffentlichen Debatten dominieren. Frauen nehmen in der Religionsgeschichte vielfältige Rollen religiöser Autorität ein. Sie fungieren als Schamaninnen, Priesterinnen, Seherinnen, Prophetinnen, Lehrerinnen, Leiterinnen, Heilerinnen oder Medien in den Religionen des Alten Orients und anderen Religionen der Vergangenheit (wie der griechischen, römischen, keltischen oder germanischen Religion), aber auch bis heute in zahlreichen ethnischen Religionen, lokalen und alltagsreligiösen Randtraditionen (Sered, 1994) sowie in neuen religiösen Bewegungen (Palmer, 1994; Vance, 2015) und im Kontext moderner Spiritualität (Woodhead, 2007). Davon unterscheiden sich Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus, die hinsichtlich Einfluss, Anspruch und/oder Verbreitung die sogenannten großen Religionen der Gegenwart bilden. Diese sind allesamt im Kontext patriarchal organisierter Gesellschaften entstanden und haben die männlich dominierten Sozialstrukturen religiös legitimiert. In den jeweiligen Entstehungsphasen waren Frauen aktiv beteiligt und konnten verschiedene Rollen einnehmen (für einen religionshistorischen Überblick vgl. Sharma, 1987; Holm & Bowker, 1998). So sind aus der buddhistischen Frühzeit die Lieder der erleuchteten Nonnen erhalten; Frauen gelten als die ersten Zeuginnen der Auferstehung Jesu Christi und waren als Diakoninnen und Apostelinnen tätig; die Frauen Muhammads spielten eine wichtige Rolle in der Überlieferung. Nach der Gründungsphase wurden Frauen in diesen Religionen in deutlich untergeordnete Funktionen zurückgedrängt. Trotz gradueller Unterschiede hinsichtlich des Zugangs von Frauen zu bestimmten religiösen Rollen (etwa Lehrerinnen und Ritualpartnerinnen im tibetischen Buddhismus oder Apostolat und Leitung in christlichen Freikirchen), die sowohl zwischen den einzelnen Religionen als auch innerhalb einer Religion bestehen können, wurden und werden die wichtigen Ämter und Leitungsfunktionen überwiegend von den männlichen Anhängern beansprucht. Die traditionellen, normativen Auffassungen über Rechte und Pflichten der Geschlechter basieren weitgehend auf dem Modell der polaren Geschlechterrollen einer heterosexuell orientierten Gesellschaftsordnung. Insbesondere die wichtige Rolle der Mutter für die Bewahrung der Patrilinie führt zu einer starken männlichen Kontrolle über die Frau, die religiös legitimiert wird. Frauen werden in den normativen Texttraditionen zu Treue, Gehorsam und Unterordnung gegenüber dem Ehemann angehalten. Der Ehemann kann in diesem Zusammenhang göttlichen Status erhalten: Die treue Hindu-Frau soll ihren Gatten wie einen Gott verehren (vgl. Manu 5, 154). Judentum, Christentum und Islam untermauern die männliche Vormacht mit verschiedenen Mitteln wie der Schöpfungsordnung (beispielsweise mit dem Mythologem von der Erst-Erschaffung des Mannes bzw. seiner besonderen Auszeichnung, vgl. Gen 2, 18–22 und Sure 4, 34). Obwohl die Rolle der Mutter im Buddhismus nicht betont wird, weil die Befreiung aus dem Geburtenkreislauf im Zentrum der Lehre steht, wird die Geschlechterhierarchie beispielsweise in den Zusatzregeln für den Nonnenorden deutlich festgeschrieben: Selbst die spirituell höchststehende buddhistische Nonne muss sich dem geringsten Mönch unterordnen (vgl. Hüsken, 1997, S. 345–360). [3]
Religiöse Sexualmoral dient der Regelung von Geschlechterbeziehungen, etwa durch diverse Sexualtabus und Verbote von vor- und außerehelicher Sexualität oder von Homosexualität. In den großen Religionen der Gegenwart wird Sexualität traditionell in den Dienst der Fortpflanzung gestellt. Im Judentum, im Islam und im klassisch-brahmanischen Hinduismus besitzen sexuelle Lust und Erotik allerdings auch einen Eigenwert (vgl. Parrinder, 2004). In den durch sexuelle Entsagung geprägten asketisch-monastischen Traditionen von Hinduismus, Buddhismus und Christentum wird Sexualität gleichgesetzt mit Unwissenheit, Begierde, Anhaftung bzw. Sünde und gilt als Heilshindernis. Da die Frau in all den genannten Religionen stärker als der Mann mit Körperlichkeit, Sexualität und Triebhaftigkeit identifiziert wird, entsteht das breit rezipierte Stereotyp der sexuellen Verführerin (vgl. etwa Manu 2, 213–215 oder 1 Tim 2,11–14), das zur Begründung vielfältiger Diskriminierungen – wie etwa dem Ausschluss von Frauen vom Erwerb religiösen Wissens – herangezogen wurde und teilweise immer noch wird (vgl. Heller, 1999). Im Kontrast zur rigorosen Abwehr von Sexualität steht ihre Bedeutung als religiöses Symbol. Beispielsweise wird die sexuelle Beziehung zwischen Mann und Frau in den christlichen und hinduistischen Traditionen der sogenannten Brautmystik zur Metapher der Beziehung bzw. Vereinigung zwischen einem männlich personifizierten Gott und dem Menschen in der Rolle der Braut. Im Kontext des hinduistischen und buddhistischen Tantrismus wird der streng ritualisierte Geschlechtsakt als symbolischer Ausdruck für die Aufhebung der Dualität in der Erfahrung göttlicher Einheit zum Instrument religiöser Befreiung. (vgl. White, 2003). Entsprechend ihrer patriarchalen Prägung wird in allen großen Religionen der Gegenwart die heterosexuelle Geschlechterordnung zur Norm erhoben. Was sie voneinander unterscheidet, ist das unterschiedliche Ausmaß der Beachtung bzw. Bestrafung gleichgeschlechtlichen Verhaltens, wobei lesbische Sexualität kaum thematisiert wird (vgl. Siker, 2007). Im Judentum, Christentum und Islam wurden sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts verurteilt und zeitweise mit der Todesstrafe belegt (etwa in altisraelitischer Zeit: Lev 20, 13; im christlichen Mittelalter; aktuell in einigen islamischen Ländern wie Saudi-Arabien oder Afghanistan). Auch heute noch überwiegt eine ablehnende Haltung, ausgenommen sind die liberalen Strömungen im Judentum und im Protestantismus; in der islamischen Geschichte weichen religiös-rechtliche Auffassungen und soziale Praxis deutlich voneinander ab. Aus hinduistischer und buddhistischer Perspektive gilt Homosexualität zwar als Fehlverhalten, das aber weder verfolgt noch schwer bestraft wurde; es überwiegen ambivalente oder eher indifferente Einstellungen. [4]
In den autoritativen Texten aller großen Religionen der Gegenwart finden sich mehr oder weniger starke Impulse für die Gleichstellung der Geschlechter im metaphysischen Bereich, vor allem im Sinn der Zuerkennung derselben Heilsfähigkeit von Männern und Frauen. Diese Vorstellungen haben teilweise zur Beseitigung weiblicher Diskriminierungen (wie etwa die Aufhebung des Verbots der Wiederheirat von Witwen durch die hinduistische Religionsgemeinschaft der Lingāyats im 12. Jahrhundert), jedoch nicht zu einer politisch-rechtlichen Gleichstellung der Geschlechter im sozialen Zusammenleben beigetragen. Weder das Konzept der Einheit von Frauen und Männern „in Christus“ (Gal 3, 28), noch das hinduistische Axiom von der Geschlechtslosigkeit des spirituellen Grundprinzips in jedem Menschen, oder die buddhistische Überzeugung, dass die Geschlechtsmerkmale unwesentlich (‚leer‘) seien, entfaltete ein nachhaltiges sozialemanzipatorisches Potenzial zur Veränderung weiblicher Unterordnung im Geschlechterverhältnis (vgl. Heller, 2015, S. 310–312). Erst unter dem Einfluss der Moderne und den gesellschaftlich veränderten Geschlechterrollen knüpfen Reformbewegungen in den traditionell patriarchalen Religionen an geschlechtsegalitäre Elemente der jeweiligen Tradition an, um mehr oder weniger erfolgreiche Veränderungen im Status von Frauen in Gang zu setzen. Fundiert durch feministische Theologien und Reflexionsprozesse (vgl. Cooey, Eakin & McDaniel, 1994; Sharma & Young, 1999), haben sich Frauen (teilweise mit der Unterstützung männlicher Reformatoren) selbst den Zugang zu religiösen Rollen erkämpft, die mit Autorität und Interpretationsmacht im Umgang mit der normativen Überlieferung ausgestattet sind, wie die der Theologin, Lehrerin oder Rabbinerin (Gierau et al., 2011). Trotz dieser Entwicklungen können in allen religiösen Traditionen ambivalente Einstellungen angesichts der Forderung nach Gleichstellung bzw. Gleichberechtigung von Frauen beobachtet werden (zu Christentum, Islam und Hinduismus vgl. Schnabel, 2016). Noch weitaus größer sind jedoch die Hindernisse, die einer Akzeptanz bzw. Wertschätzung der Geschlechtervielfalt entgegenstehen, nicht zuletzt deshalb, weil davon die Norm der heterosexuellen Geschlechterordnung tangiert ist. [5]