Sexualpädagogik ist eine Aspektdisziplin der Pädagogik, welche sowohl die sexuelle Sozialisation als auch die zielgerichtete erzieherische Einflussnahme auf die Sexualität von Menschen aller Lebensalter erforscht und wissenschaftlich reflektiert (vgl. Kluge, 1984, S. 8). Mit Sexualerziehung wird in der Regel die kontinuierliche, intendierte Einflussnahme auf die Entwicklung sexueller Motivationen, Ausdrucks- und Verhaltensformen sowie auf Einstellungs- und Sinnaspekte der Sexualität von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bezeichnet (vgl. Kluge, 1984, S. 9). Sexualaufklärung bezieht sich auf die Informierung über Fakten zu allen Themen menschlicher Sexualität und auf deren mögliche Zusammenhänge, meist als einmaliges Geschehen, mehr oder weniger zielgruppenorientiert. Sexualaufklärung ist damit ein Teil der Sexualerziehung (Martin, 2013, S. 670–686). Auch sexualpädagogische Beratung kann in Sexualerziehung integriert werden, wenn sie – meist punktuell, ausgelöst durch Konflikte und Krisen – Lern- und Entwicklungsprozesse im Gespräch mit Einzelnen oder Gruppen unterstützt (Semper, 2013, S.655–669). Mit der Metamorphose des Bildungsbegriffs im gesellschaftlichen und erziehungswissenschaftlichen Diskurs – vom humanistischen Ideal über einen bildungsbürgerlichen Habitus zum „unabgeschlossenen Projekt emanzipativer Selbstfindung“ (Bernhard & Rothermel, 1997, S. 68) – ist in den letzten Jahren vermehrt vom Paradigma der sexuellen Bildung die Rede (Kluge, 2013, S. 116–124). Innerhalb dieses Paradigmas wird davon ausgegangen, dass sexuelle Bildung ein lebenslanger Prozess der Selbstaneignung und Gestaltung sexueller Identität in Auseinandersetzung mit der jeweiligen Lebenswelt ist, der durch Erziehung in Form von Informationen, Beziehungsangeboten und Kontextgestaltung – angesichts der Selbstreferentialität des Bewusstseins (vgl. Lenzen, 1997) – lediglich begleitet werden könne (Valtl, 2013, S.125–140). [1]
Traditionell wurden drei idealtypische Konzepte oder Richtungen unterschieden, die der repressiven, die der vermittelnd-liberalen bzw. scheinaffirmativen und die der emanzipatorischen Sexualpädagogik bzw. -erziehung (Koch, 1995). Diese bereits zwischen 1918 und 1945 existierenden Strömungen (Barkow, 1980) prägten auch die Auseinandersetzungen in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte. Die weit verbreitete konservativ-repressive Konzeption (z. B. Nass, 1967; später Martial, 1991; Meves, 1992) wurde herausgefordert durch den zeitgleich mit der Sex-Pol-Bewegung von Schüler*innen und Studierenden um 1968 entwickelten emanzipatorischen Ansatz (z. B. Kentler, 1970; Gamm & Koch, 1977), aus dem später die neo-emanzipatorische Richtung hervorging (z. B. Glück, Scholten & Strötges, 1990; Sielert, 1993; Milhoffer, 2000). Kritik am emanzipatorischen Ansatz äußerte vor allem die selbsternannte ‚progressive Mitte‘, die sich der vermittelnd-liberalen Richtung zuordnete (z. B. Oestereich, 1973; Kluge, 1978, 1985; Müller, 1992). Die ständige Konferenz der Kultusminister (KMK) orientierte sich 1968 vorwiegend an dieser vermittelnd-liberalen bzw. affirmativen Richtung und veröffentlichte Empfehlungen zur Sexualerziehung in den Schulen, die 1984 von den meisten Bundesländern durch entsprechende Richtlinien ergänzt wurden. Für die Schulen blieben diese Maßnahmen aufgrund des mangelnden Praxisbezugs lediglich ein „Siegeszug am grünen Tisch“ (Müller, 1992, S. 23), da die Lehrenden zu wenig auf die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen der sexuellen Sozialisation in den 1980er und 1990er Jahren vorbereitet wurden (Müller, 1992, S. 21–23). Die in diesem Zeitraum konstatierte Pluralisierung der Lebensrealitäten, der Kampf um Geschlechterdemokratie und die Anerkennung von Homosexualität sowie die Angst vor HIV / Aids und sexualisierter Gewalt (vgl. Glück, 1998, S. 47), dynamisierte sich seit Beginn der 2000er Jahre zunehmend. Die in den Sexualwissenschaften, den Gender- und Queer-Studies sowie in der empirischen Bildungsforschung gewonnenen Erkenntnisse (z. B. Matthiesen, 2007; Menne & Rohloff, 2014; Czollek, Perko & Weinbach, 2009; Schetsche & Schmidt, 2010; Retkowski, Treibel & Tuider, 2018) lösten gesellschaftspolitische Debatten um ein erweitertes Verständnis von geschlechtlichen und sexuellen LSBTI*-Identitäten, um die Queertheorie und -bewegung, um die Angst vor sexuell übertragbaren Krankheiten zusätzlich zu HIV / AIDS, um das Wissen um sexuellen Missbrauch auch in pädagogischen Einrichtungen, um das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Sexualität und die sogenannte Pädophiliedebatte aus. Parallel dazu fanden die wissenschaftlichen Erkenntnisse Eingang in die aktuell dominante kritisch-reflexive, bisher auch neo-emanzipatorisch genannte Sexualpädagogik (Timmermanns, Tuider & Sielert, 2004). [2]
Die der reflexiven Erziehungswissenschaft und kritischen Bildungsforschung (Krüger, 1997, S. 243–252) verpflichtete Forschungs- und Denkrichtung der Sexualpädagogik hat sich kritisch mit der emanzipatorischen Sexualpädagogik in der Zeit nach 1968 sowie der wertneutralen sexual-affirmativen Richtung auseinandergesetzt. Der emanzipativen Richtung wurden die Missachtung des Gewaltverhältnisses im pädagogischen Bezug und die uneinlösbaren politischen Veränderungsimpulse nachgewiesen, und der sich als wertneutral bezeichnenden Konzeption die Tatsache, dass sie keine pädagogischen Antworten auf die Herausforderungen der sexuellen Sozialisation seit 1990 entwickele (Schmidt, Sielert & Henningsen, 2017, S. 202–218). Die kritisch-reflexive Sexualpädagogik fußt auf dem breiten Sexualitätsbegriff der Sexualforschung (Sigusch, 2005, S. 225–248; Sielert, 2015, S. 40–50) sowie der Weltgesundheitsorganisation (WHO, 2006, S. 10), der zudem auf einer intentionalen Ausrichtung auf sexuelle Selbstbestimmung, Anerkennung diverser sexueller Lebensweisen und Gewaltfreiheit basiert (Tuider & Timmermanns, 2015, S. 44–46; Timmermanns, 2016, S. 17–31). Die WHO legt eine Definition von Sexualität zugrunde, welche „das biologische Geschlecht, die Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung, Lust, Erotik, Intimität und Fortpflanzung einschließt“ (WHO, 2006, S. 10). Da Identität in diesem Zusammenhang als ein durch Lernprozesse veränderbares subjektives Wissens- und Gefühlskonstrukt verstanden wird (Burchardt, 1999, S. 73–81), bedeutet sexuelle Identität die je individuell und subjektiv konstruierte Ausprägung zentraler Aspekte von Sexualität bei einem Menschen. Was als zentral gilt und welche Aspekte die sexuelle Identität eines Menschen ausmachen, ist abhängig vom theoretischen Rahmenkonzept und von empirisch gesicherter Plausibilität. Aus sexualpädagogischer Perspektive legt die WHO-Definition nahe, sexuelle Identität nicht nur auf diverse Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen zu beziehen, sondern auch verschiedene sexuelle Präferenzen (sexuelle Motivation, Muster des Begehrens, Praktiken) und Formen der Beziehungs- und Familiengestaltung, auch Konstruktionen von Generativität (biologische oder soziale Produktivität), hinzuzuzählen (Sielert, 2015, S. 67–72). In aktuellen Vielfaltsdiskursen, in denen von sexueller Identität die Rede ist, werden die Geschlechtsidentität, d. h. das psychologische Geschlecht, und die sexuelle Orientierung, d. h. die Richtung des Begehrens, als zentral erachtet (Dreier, Kugler & Nordt, 2012). Die kritisch-reflexive Sexualpädagogik und das mit ihr korrespondierende Konzept der sexuellen Bildung zielen mit ihren Theorie- und Praxisangeboten auf eine möglichst selbstbestimmte sexuelle Identitätsentwicklung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, im Sinne des Schutzes vor sexuellen Grenzverletzungen und von Hilfen zur psychosozialen Kompetenzentwicklung in allen sexuell relevanten Bereichen (Sielert, 2018). [3]
Ein für die Sexualpädagogik zentraler Bereich ist das Variablenfeld von Sex, Gender und Begehren, das vor allem durch die Aussagen der dekonstruktivistisch orientierten Genderforschung und durch empirische Nachweise vielfältiger Subjektkonstruktionen dynamisiert wurde. Unter der Bezeichnung Queer Theory hat sich eine „radikale Sexualitätskritik“ (Hark, 2009, S. 36) etabliert, die mit dem Begriff der Heteronormativität das System der Zweigeschlechtlichkeit wie auch die Setzung der Heterosexualität als natürlich und normal problematisiert. Vertreter*innen der kritisch-reflexiven Sexualpädagogik griffen den theoretischen Diskurs auf und überprüften Sexualpädagogik daraufhin, „inwiefern sie die Möglichkeit zur selbstbestimmten Lebensführung einschränkt, wenn durch ihre Intentionen und Maßnahmen explizit oder implizit nahegelegt wird, heterosexuell und in Kernfamilien mit leiblichen Kindern zu leben“ (Sielert, 2001, S. 18). Jutta Hartmann zog zusammen mit Bettina Fritsche, Andrea Schmidt und Anja Tervooren aus den erziehungswissenschaftlichen Debatten mit Bezug auf poststrukturalistische Perspektiven Konsequenzen für eine Dekonstruktive Pädagogik (Tervooren, Hartmann, Fritsche & Schmidt, 2001). Hartmann regt mit ihrer Pädagogik vielfältiger Lebensweisen eine pädagogische Haltung an, „die daran orientiert ist, vorherrschende Identitätsannahmen und Normalitätsvorstellungen produktiv zu irritieren, die Dualitäten von Geschlecht und Sexualität zu verflüssigen sowie deren Konstruktionsmechanismen und normative Rahmung zum Gegenstand pädagogischer Auseinandersetzung zu machen“ (Hartmann, 2017, S. 76). Eine an diesem Anspruch orientierte Sexualpädagogik adaptiert den Gedanken der vielfältigen Lebensweisen mit dem Ziel, Menschen beim Entwurf ihrer je individuellen sexuellen Identität zu begleiten. Die in diesem Zusammenhang formulierten Handlungsmaximen richten sich beispielsweise auf die Bereitstellung von Lern- und Erfahrungsräumen, in denen bipolare Zuordnungen unterbleiben, gleich- und gegengeschlechtliches Begehren in allen Altersphasen ausgedrückt und gelebt werden kann und in denen sowohl biologische und soziale Elternschaft als auch verschiedene Familien- und Beziehungskonstellationen gewürdigt werden (vgl. Sielert, 2004, S. 108–112). [4]
Einige konzeptionelle Ansprüche der kritisch-reflexiven Sexualpädagogik wurden in Praxishandbüchern (bspw. von Timmermanns & Tuider, 2008; Tuider, Müller, Timmermanns, Bruns-Bachmann & Koppermann, 2012) didaktisch umgesetzt. Insbesondere die 2. Auflage der „Sexualpädagogik der Vielfalt“ (Tuider et al., 2012) geriet in einen medialen Diskurs und wurde von den Aktionsgruppen Besorgte Eltern sowie Demo für alle heftig angegriffen. Mit plakativen Schlagworten wie „Genderwahn“, „Frühsexualisierung“ oder „Verschwulung der Gesellschaft“ wurde gegen die Sexualerziehung in Kindertagesstätten und Grundschulen sowie gegen die „staatlich gestützte Sexualpädagogik (SGS)“ (Pastötter, 2016, S. 122) protestiert. Die Aktionsgruppen berufen sich dabei vor allem auf die Soziologin Gabriele Kuby (Kuby, 2014), die als prominente Vertreter*in gegen eine Sexualpädagogik der Vielfalt argumentiert. Die Proteste initiierten aufseiten der Sexualpädagogik zahlreiche Veröffentlichungen (v. a. Henningsen, Tuider & Timmermanns, 2016). [5]