Feministische Staatstheorie ist eine Subdisziplin der Politikwissenschaft und politischen Philosophie, die den Staat in seinen vergeschlechtlichten und vergeschlechtlichenden Dimensionen analysiert. Das Ziel feministischer Staatstheoretiker_innen ist ein doppeltes: Konzepte des Kanons der Politikwissenschaft zu erweitern, indem deren Vergeschlechtlichung sichtbar gemacht wird, und neue Konzepte in die Staatstheorie einzuführen, die im Kanon als naturgegeben vorausgesetzt werden und deshalb nicht als Teil dessen gelten (vgl. Ludwig, Sauer & Wöhl, 2009). [1]
Gegenstand der deutschsprachigen feministischen Staatstheorie ist vor allem der moderne, westliche Staat. Dieser bildete sich ab Ende des 18. Jahrhunderts als genuin androzentrischer heraus: Denn nicht nur waren bis ins 21. Jahrhundert nur Männer, lange Zeit nur besitzende weiße Männer, Bürger, während Frauen Tugenden wie Rationalität und Souveränität, die als Voraussetzung politischen Handelns galten, abgesprochen und die Mitgliedschaft in Parteien und Interessensvertretungen verweigert wurden. Ebenso wiesen die dem Nationalstaat zugrunde liegende „Souveränitätsidee und der Geist ‚nationaler Identität‘“ die gleichen Merkmale auf wie die maskuline Figur des „absolut autonomen, mit sich identischen Subjekts“ (Rumpf, 1995, S. 227). Diese maskulinistischen Logiken prägten auch den Wohlfahrtsstaat, der sich Ende des 19. Jahrhunderts herausbildete. Wohlfahrtsstaatliche Versicherungen orientieren sich bis heute an der männlichen Figur des vollzeitbeschäftigten Lohnarbeiters, weshalb Frauen weitaus prekärer abgesichert sind (Pfau-Effinger, 2000). [2]
Drei Stränge der Theoretisierung von Staat und Geschlecht lassen sich unterscheiden (Ludwig, 2015): Feministisch-marxistische Ansätze schließen an Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) an, die den Staat als Herrschaftsinstitution zur Sicherung gesellschaftlicher Ausbeutungs- und Ungleichheitsverhältnisse begreifen. Analog zum Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ (Engels, 1969, S. 222) wird dieser als patriarchale Herrschaftsinstitution gesehen, die mittels Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit und mittels des Konstrukts ‚Familie‘ Geschlechterunterdrückung ermöglicht (McIntosh, 1978; Werlhof, 1985). Feministisch-gesellschaftstheoretische Ansätze gehen im Anschluss an Antonio Gramscis (1891–1937) Hegemonietheorie von einem erweiterten Staatsbegriff aus, demzufolge auch die Zivilgesellschaft Teil des Staates ist. Der Staat im engeren Sinne ist „nur so frauenfreundlich oder genau so maskulinistisch […] wie die Zivilgesellschaft und umgekehrt“ (Sauer, 2001, S. 166). Mit Rekurs auf Nicos Poulantzas (1936–1979) wird der Staat als materielle Verdichtung auch von Geschlechterverhältnissen theoretisiert (Eisenstein, 1984; Sauer, 2001; Sauer & Wöhl, 2008), der „kein monolithischer androzentrischer Block“ ist, sondern „aus diversen ‚Apparaten‘ besteht, in denen auch Interessen von Frauen repräsentiert sein können“ (Sauer, 2001, S. 158–159). Feministisch-poststrukturalistische Ansätze wurden v. a. von Michel Foucaults (1926–1984) Gouvernementalitätsvorlesungen (Foucault, 2004a; 2004b) und Judith Butlers Arbeiten zu (Hetero-)Sexualität geprägt (Butler, 1991; 1995). Die Vergeschlechtlichung des Staates wird als Effekt von Diskursen und Praxen und die binäre heteronormative Vergeschlechtlichung der Subjekte als Effekt staatlicher Macht konzipiert (Brown, 1992; Ludwig, 2011; Pringle & Watson, 1992). [3]
Zentrale Begriffe, die aus einer feministischen Perspektive rekonzeptualisiert wurden, sind Gesellschaftsvertrag, Staatsbürgerschaft, Recht und Gewalt. In der politischen Ideengeschichte wird die Gründung des westlichen Staates auf den Gesellschaftsvertrag zurückgeführt. Demzufolge beruht der moderne westliche Staat auf einer vernunftgeleiteten Übereinkunft, in dem Individuen ihre Souveränität dem Staat übertragen, wobei deren Unterwerfung unter den Staat mit dem Versprechen von Sicherheit und Ordnung legitimiert wird. Dieser Gesellschaftsvertrag wurde als ein Geschlechtervertrag besitzender weißer Männer ausgewiesen, der Frauen ebenso wie Bedürfnisse, Abhängigkeiten und Emotionen in die als unpolitisch definierte Privatheit verbannte (Pateman, 1988; Wilde, 1997). [4]
Staatsbürgerschaft wird aus einer feministischen Perspektive als Konglomerat von Rechten und Praxen ökonomischer, politischer und sozialer Teilhabe konzipiert. Nicht nur ist die Figur des Staatsbürgers androzentrisch, ebenso sind die substantiellen Möglichkeiten, staatsbürgerschaftliche Rechte tatsächlich in Anspruch zu nehmen, entlang von Geschlecht ungleich verteilt (Appelt, 1999; Wilde, 2001). Aus einer queer-feministischen Perspektive kann zudem die Grundlage staatsbürgerlicher Intelligibilität als heteronormativ kritisiert werden, da eine binäre ‚Geschlechtsidentität‘ Voraussetzung für Staatsbürgerschaft ist und zudem Staatsbürgerschaftsrechte auf heteronormativen Vorstellungen von Intimität, Sexualität, Privatheit, Familien- und Beziehungsformen aufbauen (Klapeer, 2014). [5]
Feministische Arbeiten, die sich mit dem Rechtssystem befassen, widerlegten die Annahme der ‚klassischen‘ Staatstheorie, dass dieses objektiv, neutral und universal sei. Diese Attribute wurden als Ausdruck maskuliner und heteronormativer Machtverhältnisse entlarvt, die ungleiche Geschlechter- und Sexualitätsverhältnisse legitimieren (Baer & Berghahn, 1996; Holzleithner, 2002; MacKinnon, 1983; Mesquita, 2012). Trotz des verfassungsrechtlich festgeschriebenen Gleichheitssatzes kann das Recht durchaus Geschlechterungleichheit tolerieren und hervorbringen, da dem Rechtssystem ebenso wie der Figur des Rechtssubjekts maskulinistische und heteronormative Normen zugrunde liegen. [6]
Auch die staatliche Definition von Gewalt beruht auf androzentrischen und heteronormativen Geschlechter- und Sexualitätskonstruktionen. So stellte in Deutschland eine Vergewaltigung in der Ehe bis zur von Frauenbewegungen erkämpften Eherechtsänderung 1997 für den Staat keine Gewalt dar (Sauer, 2008). Ein gegenwärtiges Beispiel dafür ist, dass geschlechtszuweisende und -vereindeutigende Maßnahmen bei intersexuellen respektive intergeschlechtlichen Kindern dem Staat nicht als Gewalt und Körperverletzung gelten, da von der Vorstellung einer essentiellen Zweigeschlechtlichkeit ausgegangen wird (Paloni, 2012). [7]
Ein wichtiger Begriff, mit dem Feminist_innen Staatstheorie ergänzten, ist jener des Maskulinismus. Damit verdeutlichte Eva Kreisky, dass staatliche Institutionen, Verwaltung und Bürokratie Sedimentierungen maskuliner Lebensweisen sind. Mit dem Konzept des Männerbunds analysierte sie die Vergeschlechtlichung staatlicher Beziehungs- und Kommunikationsstrukturen und zeigte, dass für staatliches Handeln auch Emotionen und soziale Bindungen, die in der ‚klassischen‘ Staatstheorie keine Beachtung finden, bedeutungsvoll sind (Kreisky, 1994; Kreisky, 1997). Ebenso wurde der Begriff der Privatheit von feministischen Staatstheoretiker_innen in seiner staatskonstituierenden Bedeutung kenntlich gemacht. Beispielsweise beruht der (Wohlfahrts-)Staat auf privat erbrachter Reproduktions- und Sorgearbeit (Kulawik, 1996), die bis heute hauptsächlich von Frauen übernommen wird. Auch Körper, Sexualität, Reproduktions- und Verwandtschaftspolitiken gelten feministischer Staatstheorie nicht als naturgegeben, sondern als durch staatliche Bevölkerungspolitiken auf nationaler und globaler Ebene hervorgebracht (Kontos, 1996; Schultz, 2006), die zugleich wiederum eine je historisch spezifische Form von Nationalstaatlichkeit stützen (Ludwig, 2014). [8]
Ob der Staat Adressat für emanzipatorische Veränderungen sein kann, wurde stets kontrovers diskutiert. Während aus marxistisch-feministischer Perspektive dies als „Komplizenschaft“ (Werlhof, 1990, S. 114) verworfen wird, wird in gesellschaftstheoretisch- und poststrukturalistisch-feministischen Ansätzen Politik im und mit dem Staat als ein möglicher Ansatzpunkt politischer Kämpfe gesehen (Sauer, 2009). Allerdings kann die Integration (queer)-feministischer Forderungen auch – wie beispielsweise Analysen von Gender Mainstreaming (Wöhl, 2007) ebenso wie des Lebenspartnerschaftsgesetzes (Raab, 2011) zeigen – hierarchische Geschlechter- und Sexualitätsverhältnisse verfestigen. Daher muss in queer-feministischen Politiken darauf geachtet werden, wer aus der staatlichen Anerkennung (bewegungs-)politischer Forderungen Nutzen zieht und wie dadurch alte Macht- und Herrschaftsverhältnisse in neuer Weise fortgeschrieben werden. [9]
Aktuelle feministische staatstheoretische Zeitdiagnosen verweisen v. a. auf eine Gleichzeitigkeit von Veränderung und Tradierung von Geschlechter- und Sexualitätsverhältnissen. Denn obgleich in westeuropäischen Staaten in den letzten Jahrzehnten explizite sexuelle und geschlechtliche Ungleichheiten nicht zuletzt durch queer-feministische Kämpfe abgebaut wurden, blieb der Staat ein heteronormatives und androzentrisches Herrschaftsgebilde (s. a. Löffler, 2012). Austeritätspolitiken, die neoliberale Autoritarisierung von Staatlichkeit und die zunehmende Bedeutung rechter Politiken führen zudem zum Wiedererstarken von reaktionären Geschlechter- und Sexualitätspolitiken. Für präzise Gegenwartsdiagnosen sind auch theoretische Weiterentwicklungen der feministischen Staatstheorie erforderlich: So braucht es einerseits eine stärkere Berücksichtigung intersektionaler Perspektiven, da nur durch die Verbindung von Geschlechter-, Klassen-, Migrations-, Sexualitäts-, ‚ability‘- und ‚race‘-Regimes der Staat umfassend als Macht- und Herrschaftsformation konzeptualisiert werden kann (u. a. Çitak, 2008; Erel, 2004; Roß, 2004; Sauer, 2012). Andererseits gilt es zukünftig, auch postkoloniale Ansätze stärker in die feministische Staatstheorie einzubeziehen (vgl. dazu Dhawan; 2015; Rai & Lievesley, 1996), um das Verhältnis von (National-)Staatlichkeit, Geschlecht und Heteronormativität im Kontext (neo-)kolonialer Machtverhältnisse präzise fassen und kritisieren zu können. [10]