Heteronormativität ist ein zentraler Begriff der Queer Theory, mit dem Naturalisierung und Privilegierung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit in Frage gestellt werden. Das bedeutet, dass nicht nur die auf Alltagswissen bezogene Annahme, es gäbe zwei gegensätzliche Geschlechter und diese seien sexuell aufeinander bezogen, kritisiert wird, sondern auch die mit Zweigeschlechtlichkeit und (ehevertraglich geregelter) Heterosexualität einhergehenden Privilegierungen und Marginalisierungen. Der Begriff Heteronormativität dient zur Analyse und Kritik der Verflechtung von Heterosexualität und Geschlechternormen, mit denen Macht-, Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse einhergehen (vgl. Engel, 2009, S. 19). Mit ihm werden Reproduktionsmechanismen und institutionelle Zwänge in den Blick gerückt, die Heterosexualität als zeitlose, unveränderbare Institution und ohne Geschichte erscheinen lassen (vgl. Hark, 2009, S. 318). „Analysiert wird, wie Heterosexualität in die soziale Textur unserer Gesellschaft, in Geschlechterkonzeptionen und in kulturelle Vorstellungen von Körper, Familie, Individualität, Nation, in die Trennung von privat/öffentlich eingewoben ist, ohne selbst als soziale Textur bzw. als produktive Matrix von Geschlechterverhältnissen, Körper, Familie, Nation sichtbar zu sein.“ (Hark, 2009, S. 318). [1]
Der Neologismus „heteronormativity“ (Warner, 1991, S. 14) tauchte erstmalig in Michael Warners Aufsatz „Introduction: Fear of a Queer Planet“ auf (Wagenknecht, 2007, S. 18). Ausgehend von dem Befund, dass die Sozialtheorie lange Zeit Sexualität als gesellschaftliche Institution ausgeblendet hat, schlägt Warner vor, Heterosexualität als eine grundlegende Kategorie sozialtheoretischer Analysen zu denken, um damit Kritik am Privileg einer heterosexuellen Kultur üben zu können, die sich selbst als ‚die Gesellschaft‘ begreift (vgl. Warner, 1993, S. xv–xxi). Vorläufer dieser Überlegung stellen zum einen Debatten und Aktionen der AIDS-Bewegung dar, mit denen die „fatale Unsichtbarmachung der als nichtbetrauerbar Empfundenen“ (Dietze, Haschemi & Michaelis, o. J.) – meist schwule Männer – kritisiert wurden, und zum anderen lesbisch-feministische Untersuchungen. In letzteren wird die vermeintliche Normalität von Heterosexualität problematisiert, etwa mithilfe des Begriffs der Zwangsheterosexualität, im englischsprachigen Original „compulsory heterosexuality“ (Rich, 1987, S. 22). Während Adrienne Rich (1987, S. 22–75) zwar Heterosexualität, nicht aber Geschlecht, entnaturalisiert, geht Monique Wittig (1992) weiter und hinterfragt die Verbindung zwischen Geschlecht und Heterosexualität. Mit ihrem Zitat „lesbians are not women“ (Wittig, 1992, S. 32) führt sie die Subjektposition der Lesbe (lesbian) affirmativ als widerständige an. Lesben seien deshalb keine Frauen, weil ‚Frau‘ nur innerhalb des heterosexuellen Regimes Bedeutung habe (vgl. Wittig, 1992, S. 20, 32). Auch queertheoretische Ansätze, die sich auf poststrukturalistische Theorien berufen, plädieren dafür, Sexualität und Geschlecht analytisch zu unterscheiden. Sie stellen dabei die identitätspolitischen Thesen der Vorgänger_innen in Frage, um sich stärker den Effekten von Macht-Wissens-Ordnungen zuzuwenden (vgl. Jagose, 2005, S. 95–106). [2]
Zentrale Bezugspunkte für solche Analysen stellen Michel Foucaults (1926–1984) Untersuchungen zur Sexualität als nicht von Machtfragen zu trennendem Prinzip der Regulierung (Foucault, 1983; 1986a; 1986b; Foucault, Honneth & Saar, 2008) und Judith Butlers Theorie der Subjektkonstitution im Rahmen der heterosexuellen Matrix (Butler, 1991) oder heterosexuellen Hegemonie (Butler, 1997) dar. Foucaults Arbeiten haben vor allem dazu beigetragen, die Geschichte der „Sexualität als Erfahrung“ (Foucault et al., 2008, S. 1157-1158) nachzuzeichnen und sexuelle Identitäten nicht als natürlich, sondern als Formen der Subjektivation zu begreifen (Foucault et al., 2008, S. 1158). Butler betont im Anschluss daran vor allem die regulierenden Effekte des Verweisungszusammenhangs von sex-gender-desire (zugewiesenes Geburtsgeschlecht, soziales Geschlecht, Begehren) (vgl. Butler, 1997, S. 24–41; 1991, S. 22–24). Mit der heterosexuellen Hegemonie beschreibt und kritisiert sie das Raster kultureller Intelligibilität, also der Normen der sozialen Les- und Anerkennnbarkeit (vgl. Butler, 2009, S. 9–12). Dieses ‚Raster von Normen‘ stifte Beziehungen der Kohärenz und Kontinuität zwischen zugewiesenem Geschlecht, sozialem Geschlecht und Begehren und erhalte diese aufrecht – und zwar um den Preis des Ausschlusses derjenigen, die mit dem Ineinander von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit nicht konform gehen (können) (vgl. Butler, 1991, S. 38). Des Weiteren widerspricht Butler mithilfe der Begriffe Performativität und Resignifizierung (vgl. Butler, 1997, S. 307–332; 2006, S. 221–255) der in sozialkonstruktivistischen Ansätzen prominenten Trennung der Kategorien sex und gender (vgl. zur Erklärung der Unterscheidung von sex und gender West & Zimmerman, 1987). Diese Trennung schreibe den Dualismus Natur/Kultur fort, indem sie ein individuelles oder soziales Handlungsvermögen (gender) impliziere, das an ein vordiskursives Geschlecht (sex) anschließe (vgl. Butler, 1997, S. 24–35). Sie theoretisiert stattdessen, wie sich Geschlechternormen performativ in Stilen, Bewegungen und Körpern materialisieren und wie in diesem Prozess widerständiges Handeln konzipiert werden kann, ohne auf souveräne Subjekte zu rekurrieren. [3]
Im Wesentlichen sind in Deutschland drei Forschungsrichtungen im Zusammenhang mit Queer Theory/Heteronormativitätskritik entstanden. Diese beziehen sich zum ersten auf soziale und kulturelle und zum zweiten auf politische und ökonomische Dimensionen von Heteronormativität. Der dritte Schwerpunkt lässt sich als (Natur-)Wissenschaftskritik beschreiben und kritisiert biologisch-medizinische Modelle von Geschlecht und Sexualität, wie etwa das Ein- und Zwei-Geschlechter-Modell (vgl. Voß, 2011, S. 12) oder die Naturalisierung von Heterosexualität in der Biologie (vgl. Ebeling, 2006). Gegenstände sozial- und kulturwissenschaftlicher Untersuchungen sind ästhetische Texte und Repräsentationspolitiken (Engel, 2002; 2009; Kraß, 2003; Paul & Schaffer, 2009; Hoenes, 2014), Widerständigkeiten im Kontext von kollektiven Praktiken, etwa des Drag Kingings (Schirmer, 2010) oder der Queeren Femme (Volcano & Dahl, 2008; Fuchs, 2009), sowie pädagogisches Denken und Handeln im Anschluss an die Queer Theory (Luhmann, 1998; Hartmann, 2002; 2004; DePalma, 2013). Im Zentrum einer heteronormativitätskritischen Pädagogik steht die Thematisierung von Normen, Zwängen und Privilegien, die Destabilisierung von Identitätskategorien und die Ermöglichung des Artikulierens von Grenzgängen, hybriden Identitäten und vielfältigen und widersprüchlichen Zugehörigkeiten (vgl. auch Sykes, 2011, S. 424–429). Zu den ökonomiekritischen und politikwissenschaftlichen Studien gehören solche, die neoliberale (Arbeits-)Verhältnisse in queer-feministischer Perspektive fokussieren (Lorenz & Kuster, 2007; Groß & Winker, 2007), oder die Zusammenhänge zwischen nationalstaatlicher Politik, Citizenship und Sexualität bzw. Geschlechterpolitik erforschen (Hark & Genschel, 2003; Butler, 2008; Puar, 2007; 2013; Castro Varela, Dhawan & Engel, 2011). Die Kritik an naturwissenschaftlichen Konzeptionen von Geschlecht und Sexualität bezieht sich auf den gesellschaftlichen Konstruktionscharakter naturwissenschaftlicher Geschlechtertheorien, der vorurteilsfreie Interpretationen von Geschlecht und Sexualität verunmöglicht (vgl. Voß, 2011, Ebeling & Schmitz, 2006) und weitreichende Implikationen hat, z.B. die als gewaltförmig zu interpretierenden geschlechtszuweisenden Eingriffe an inter*geschlechtlichen Kindern. [4]
Für die Geschlechterforschung ergeben sich nach Sabine Hark (2009) drei zentrale Forderungen aus den Queer Studies und der damit einhergehenden Heteronormativitätskritik. Erstens sei das Regime der Heterosexualität stärker als bisher in Analysen von Geschlechterverhältnissen einzubeziehen; zweitens soll nach den diskursiv organisierten Normalisierungsverfahren gefragt werden, in denen Geschlecht und Sexualität hervorgebracht und reguliert werden; und drittens ist Geschlecht als intersektionale Kategorie zu begreifen. Geschlecht ist mit Begehren, aber auch mit Fragen der Ethnisierung oder Kulturalisierung verknüpft (vgl. Hark, 2009, S. 323–324). Durch Kontextualisierung der Forschung und Berücksichtigung von sozialen Ein- und Ausschlussverfahren bestünde schließlich die Möglichkeit, zu einer vielschichtigen Analyse der Überschneidungen von Geschlecht und Sexualität mit weiteren Ungleichheitsdimensionen zu kommen, ohne die Komplexität produktiver Machtverhältnisse zu vernachlässigen (vgl. Hark, 2009, S. 324). [5]
Sowohl für die Geschlechterforschung im Allgemeinen als auch für die Gender und Queer Studies im Besonderen stellt die Verflechtung von Herrschaftsverhältnissen nach wie vor eine aktuelle Herausforderung dar (vgl. Hark, 2013, S. 5; Dietze, Haschemi & Michaelis, o. J.). Auch Heteronormativitätskritik soll folglich stärker als bisher intersektional und historisch praktiziert gedacht werden (vgl. Hark, 2013, S. 5; Dietze, Haschemi & Michaelis, o. J.; Sykes, 2011). Mithilfe der Begriffe Homonormativität (Duggan, 2002) und Homonationalismus (Puar, 2007) kann reflektiert werden, wie weiße schwule, lesbische und queere Subjekte und Politiken ihre eigenen begrenzten Wahrnehmungen und auch normativen Ausschlüsse produzieren (vgl. Sykes, 2011, S. 429–431); wenn bspw. durch privilegierte Lebensformen der Homoehe heteronormative Institutionen gestützt werden (vgl. Duggan, 2003, S. 50), oder wenn westliche Konzeptionen geschlechtlicher und sexueller Identität (z.B. das so genannte Coming-Out) als allgemein gültige Normalität der Identitätsentwicklung von lesbischen, schwulen, Trans* und Inter*Personen angenommen werden (vgl. Ward, 2008, S. 566). Homonationalismus beschreibt, wie sich westliche LGBT*Q Bewegungen in die heteronormative Mehrheitsgesellschaft integrieren können, indem sie sich rassistischen und neoorientalistischen Diskursen anschließen, die die Akzeptanz sexueller Vielfalt als Produkt westlicher Zivilisationsüberlegenheit begreifen und Homophobie an Personen delegieren, die als nicht-weiß und nicht-westlich sozialisiert gelesen werden (vgl. Dietze, Haschemi & Michaelis, o. J., S. 7–8; Butler, 2014, S. 186). Zusammenfassend verweisen solche Debatten, die den Begriff Heteronormativität selbst in Frage stellen, darauf, dass einerseits die spezifischen Mechanismen von Heteronormativität als Konstitutionsprinzip immer von den jeweiligen gesellschaftlichen und historischen Verhältnissen abhängig, und folglich wandelbar, sind, dass aber andererseits die Kontinuität von Heteronormativität(en) weiterbesteht (vgl. Nüthen, 2014). [6]