Gender Medizin (im englischen Gender-Specific Medicine oder kurz Gender Medicine) ist eine Disziplin der Humanmedizin, die den Einfluss von biologischem (Sex) und psychosozialem Geschlecht (Gender) gemäß dem bio-psycho-sozialen Modell von Gesundheit und Krankheit (Legato, 2009) berücksichtigt. Diese Fachrichtung untersucht Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten zwischen Männern und Frauen in Bezug auf Gesundheitserhaltung und -förderung, Entstehung von und Umgang mit Krankheiten sowie deren Diagnose und Behandlung. Ziel ist es, die Lebensqualität über die gesamte Lebensspanne zu erhalten und eine optimale medizinische Versorgung aller Geschlechter zu ermöglichen. Dabei findet in der Medizin üblicherweise ein binäres Geschlechtermodell (Mann/Frau) Verwendung, das nicht alle Vorstellungen eines vielfältigen Zusammenspiels möglicher Sex- und Genderkategorien berücksichtigt (Short, Yang & Jenkins, 2013). [1]
Das biologische Geschlecht wird durch Gene, Geschlechtschromosomen, Hormone, innere Geschlechtsorgane und äußere Geschlechtsmerkmale bestimmt (Kirchengast, 2014; Miller, 2014). Dabei ist zu berücksichtigen, dass das biologische Geschlecht (genetisch, anatomisch, hormonell) eines Menschen nicht immer eindeutig bestimmbar ist (Ainsworth, 2015) bzw. dass es nicht mit der Geschlechtsidentität dieser Person übereinstimmen muss (Harreiter, Thomas & Kautzky-Willer, 2014; Kautzky-Willer, 2014). Biologische Unterschiede finden sich auch in Körperzusammensetzung, Größe und Funktion verschiedener Organe (Kautzky-Willer, 2012). Das in der Gender Medizin ebenso wichtige psychosoziale Geschlecht wird durch Geschlechterrolle, Einkommen, Ausbildung, Kultur, familiäres Umfeld und soziale Unterstützung beeinflusst (Kirchengast, 2014; Miller, 2014) und muss auch in Prävention, Diagnose, Prognose, Therapie und Rehabilitation berücksichtigt werden. Biologisches und psychosoziales Geschlecht stehen in einem ständigen Wechselspiel, wodurch eine eindeutige Trennung von Sex und Gender in der Medizin oft nicht ermöglicht wird. So veränderte sich beispielsweise die Lungenkrebsinzidenz bei Frauen in den vergangenen Jahrzehnten nicht allein so rasant durch die steigende Anzahl von Raucherinnen, sondern weil Tabakkonsum für Frauen auch biologisch viel stärkere Folgen hat (Huxley & Woodward, 2011; Kautzky-Willer, 2014; Mooney et al., 2001; Park et al., 2010). [2]
Geschichtlich hat sich die Gender Medizin aus der Frauenbewegung der 1960er und der daraus entstandenen Frauen- und Männergesundheitsforschung entwickelt (Legato, 2009; Miller et al., 2013). Sie haben auch die Basis für die nationalen und internationalen Frauen- und Männergesundheitsberichte gebildet, welche spezifisch die medizinische Versorgung und den gesundheitlichen Status von Frauen bzw. Männern analysieren und damit notwendige Handlungsfelder aufzeigen (Habl, Birner, Hlava & Winkler, 2004; Thümmler, Britton & Kirch, 2009; Verein für prophylaktische Gesundheitsarbeit et al., 2011; White et al., 2011). Gendermedizin kann als Erweiterung der personalisierten Medizin betrachtet werden, die Frauen und Männer geschlechtssensitiv unter Berücksichtigung individueller (biologie-basierter und psychosozialer) Voraussetzungen behandelt (Harreiter, et al., 2014; Kautzky-Willer, 2014; Koch-Gromus & Gromus, 2014; Oertelt-Prigione & Regitz-Zagrosek, 2012). Als Pionierinnen der Gender Medizin gelten Bernadine Healy, welche Anfang der 1990er in ihrem Artikel „The Yentl Syndrome“ anprangerte, dass Frauen erst beweisen müssten, so krank zu sein wie ein Mann, um dieselbe Behandlung zu erhalten (Healy, 1991), und Marianne J. Legato, deren Bücher zur Gender Medizin bereits in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden (The Foundation for Gender-Specific Medicine, 2014). In Europa wurden 2001 (Karolinska Institute, 2011) schließlich von Karin Schenck-Gustafsson das erste Zentrum für Gender Medicine und 2007 durch Vera Regitz-Zagrosek die Internationale Gesellschaft für Gendermedizin (Deutsche Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e.V., 2014; International Society for Gender Medicine (IGM), 2015) gegründet, in der auch die nationalen Gesellschaften Deutschlands, Israels, Italiens, Japans, Österreichs und der Vereinigten Staaten von Amerika vertreten sind. Im deutschsprachigen Raum sind besonders Vera Regitz-Zagrosek, Gründerin der Deutschen Gesellschaft für Geschlechterforschung in der Medizin und Direktorin des Institutes für Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité Berlin, sowie Alexandra Kautzky-Willer, Professorin für Gender Medicine an der Medizinischen Universität Wien, Obfrau der Österreichischen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin und Mitgründerin der Österreichischen Gesellschaft für Geschlechterforschung, sowie Margarethe Hochleitner, Professorin für Gender Medicine an der Medizinischen Universität Innsbruck zu nennen (Bock, 2014). [3]
Weil das Bild von Gesundheit und Krankheit in der Medizin androzentrisch geprägt war, legte die Gender Medizin zunächst einen speziellen Schwerpunkt auf eine ganzheitliche Betrachtung der Frauengesundheit: Klinische Studien wurden früher vor allem an Männern durchgeführt, da Frauen über Jahrhunderte medizinisch schlicht als ‚kleiner Mann‘ (Variante eines männlichen Individuums) gesehen wurden (Cotton, 1990; Ruiz & Verbrugge, 1997). Einzig frauenspezifische Vorgänge wie Schwangerschaft und Geburt unterlagen nicht dieser Diskriminierung. Heute sind in vielen Fachbereichen praxisrelevante Beispiele bekannt. Der Herzinfarkt war eine der ersten Krankheiten, an der sich zeigte, dass eine solche Auffassung fatale Folgen haben kann: Frauen zeigen viel häufiger a-typische Herzinfarkt-Symptome als Männer, wodurch der Herzinfarkt bei Frauen viel später bzw. gar nicht erkannt wurde bzw. teilweise noch immer wird (Oertelt-Prigione & Regitz-Zagrosek, 2012; Regitz-Zagrosek, 2006). Ein weiteres Beispiel ist die Prädiabetes-Diagnose: Frauen weisen viel häufiger als Männer eine gestörte Glukosetoleranz auf, welche nur durch einen zeitaufwändigen oralen Glukosetoleranztest erkannt werden kann. Eine gestörte Nüchternglukose, eine andere Prädiabetes-Form, kommt hingegen häufiger bei Männern als bei Frauen vor. Das hat zur Folge, dass Prädiabetes auch heute noch bei Frauen oft unerkannt bleibt (DECODE Study Group, 2003). [4]
Aber nicht nur Frauen können einen Nachteil durch Gender Bias haben. Männer sind bei Erkrankungen, die vor allem Frauen zugeschrieben wurden, wie etwa Depression oder Osteoporose, oft die Benachteiligten: Zusätzlich zu den, vor allem durch die Untersuchung von Frauen definierten, ‚klassischen‘ Symptomen (z. B. vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühle und Gefühl der Wertlosigkeit, gedrückte Stimmung, Suizidgedanken, Schlafstörungen) kann eine Depression beispielsweise bei Männern häufiger auch durch erhöhte Risikobereitschaft, Wutattacken oder geringe Stresstoleranz zum Ausdruck kommen und so unerkannt bleiben (Schenck-Gustafsson, 2012). Allerdings führt die Tatsache, dass die oben beschriebenen klassischen Symptome weiblich konnotiert sind, auch dazu, dass Frauen überdiagnostiziert werden (Aragones, Pinol & Labad, 2006). [5]
Um den möglichen Einfluss von Sex und Gender bei Prävention, Diagnose, Therapie und Prognose von Krankheiten beurteilen zu können, fordern Vertreter_innen der Gender Medizin, dass Sex und Gender als relevante Faktoren in jeden Versuchsaufbau und in jede Analyse, die beide Geschlechter betrifft, einfließen müssen – bei Zellversuchen beginnend bis hin zu klinischen Studien. Diese Forderung wurde mittlerweile auch von namhaften medizinischen Fachjournalen (Pollitzer, 2013; Schiebinger, 2014; The Lancet, 2011) und Institutionen (Clayton & Collins, 2014) aufgegriffen. Entscheidend ist auch die Integration von Genderaspekten in die Medikamentenentwicklung und Arzneimitteltherapie (Regitz-Zagrosek, 2012; Regitz-Zagrosek, 2014). So befürwortet auch die U.S. Food and Drug Administration (FDA) die Teilnahme von Frauen an klinischen Studien, um geschlechtsspezifische biologische Unterschiede besser verstehen zu können (U.S. Food and Drug Administration, 2014). Genderkompetenz (Wegrzyn, 2014) in der Bewertung von Symptomen, im Entwickeln von Empfehlungen und in der Behandlung von Erkrankungen muss generell im Medizinstudium und in der postgraduellen Fortbildung vermittelt werden, um geschlechtssensitive medizinische Konzepte in der Praxis vermehrt berücksichtigen zu können (Pfleiderer et al., 2012). An der Charité wurde auch eine Datenbank aufgebaut, die Informationen zur Gendermedizin sammelt (GenderMed DB, 2015).[6]
Außer robusten, von sozialen Faktoren unabhängigen, geschlechtsspezifischen Unterschieden, müssen viele Ergebnisse der Gender Medizin immer wieder kritisch hinterfragt und vor dem jeweiligen gesellschaftlichen Hintergrund neu bewertet werden, da sich die sozialen Normen, kulturellen Einflüsse und Lebensbedingungen ändern und diese somit auch die Gesundheit von Männern und Frauen unterschiedlich beeinflussen (Kautzky-Willer, 2014). Außerdem können scheinbar primär biologische Unterschiede in Begabungen, wie zum Beispiel allgemeine Vorteile der Männer in der Begabung für das Lösen bestimmter mathematischer Aufgaben, oder allgemein bessere Gedächtnisleistung bei Frauen, durch Faktoren wie Erfahrung, Lernprozesse sowie gesellschaftliche Stellung beeinflusst und unterschiedliche Fähigkeiten dadurch gestärkt oder abgeschwächt werden (Weber, Skirbekk, Freund & Herlitz, 2014). Das gilt es gerade in der Hirnforschung mit zu berücksichtigen (Jordan-Young, 2012). Eine weitere Herausforderung der Gendermedizin ist es auch, geschlechtsspezifische Präferenzen für geschlechtssensitive Ansätze gesundheitlich zu nützen, ohne dabei Geschlechterstereotype zu verstärken. Auch wenn die genannten Herausforderungen aktuell bestehen, so ist dennoch generell zu konstatieren, dass sich die Gendermedizin mittlerweile als wichtiger Bestandteil der Medizin etabliert hat. Durch ihre Komplexität und Interdisziplinarität trägt sie zu einem umfassenderen Verständnis und damit zu einer besseren gesundheitlichen Versorgung von Männern und Frauen bei. [7]