Die feministische Geographie verfolgt drei miteinander verbundene Anliegen: Verstanden als geographische Geschlechterforschung untersucht sie den Zusammenhang von gesellschaftlicher Räumlichkeit und Geschlechterverhältnissen (Massey, 1994; Bauriedl, Schier & Strüver, 2010; Schurr & Wintzer, 2011; Wastl-Walter, 2010). Sie fokussiert auf das Verhältnis von sozialen Prozessen einerseits und ihrer räumlichen Organisation andererseits und zeichnet nach, welche Rolle Räumen in der Konstruktion von sozialen Identitäten und Beziehungen sowie in der Produktion und Aufrechterhaltung von Ungleichheitslagen zukommt. Im Rahmen wissenschaftstheoretischer Debatten wird nach Möglichkeiten der Integration feministischer und geographischer Theoriebildung gesucht und der implizite Androzentrismus in Geschichte und Gegenwart geographischen Denkens und Forschens kritisiert (Rose, 1993; Moss, 2002; Mott & Roberts, 2014; Domosh, 1997). Disziplinpolitisch lenken feministische Geograph_innen die Aufmerksamkeit auf bestehende Ungleichheitsverhältnisse und geschlechtsspezifische Arbeitsteilungen in der Hochschulgeographie. [1]
Die feministische Geographie ist keine Teildisziplin der Geographie, sie interveniert vielmehr in alle Teilbereiche des Fachs. Ein Großteil feministisch-geographischer Forschung und Theoriebildung ist gegenwärtig in der Humangeographie angesiedelt, z.B. in der Stadtforschung (für einen Überblick siehe Bondi & Rose, 2003; Jarvis, Cloke & Kantor, 2009; Preston & Ustundag, 2005; Bauriedl & Schurr, 2014), der Wirtschaftsgeographie (Johnson, 2011; Bedford & Rai, 2010; Cameron & Gibson-Graham, 2003) und der Politischen Geographie (Staeheli, Kofman & Peake, 2004; Hyndman, 2001; Dixon & Marston, 2011; Casolo & Doshi, 2013). Neben der Humangeographie widmen sich feministische Analysen auch der Physischen Geographie und damit dem naturwissenschaftlichen Teil des Fachs (Bee, Madge & Wellens, 1998; Bauriedl, Fleischmann & Meyer-Hanschen, 2001; Endfield & Morris, 2012; zu feministischen Perspektiven auf Klima und gesellschaftliche Naturverhältnisse siehe auch die Beiträge in Çağlar, Castro Varela & Schwenken, 2010). Im Sinne einer feministischen Science and Technology-Forschung werden die Techniken geographischer Wissensproduktion wie Kartographie und Geographische Informationssysteme (GIS) in den Blick genommen (Kwan, 2002; McLafferty, 2005; Pavlovskaya & Martin, 2007; Schuurman, 2002). [2]
Feministische Perspektiven sind aus der Geographie kaum mehr wegzudenken, gleichwohl ist ihre Geschichte sehr jung. Obwohl die Humangeographie das Verhältnis von Gesellschaft und Raum untersucht, waren Geschlechterverhältnisse als zentrales sozial-räumliches Strukturprinzip für lange Zeit kein Gegenstand humangeographischer Analysen. Erst in den 1980er Jahren hielten gendersensible Forschungsperspektiven verstärkt Einzug in die geographische Wissensproduktion, zunächst vor allem im angloamerikanischen, später auch im deutschsprachigen Raum (Monk & Hanson, 1982; Bäschlin & Meier, 1995). Ein wichtiger Entstehungskontext der deutschsprachigen feministischen Geographie war in den 1980er Jahren die angewandte Stadtforschung und Stadtplanung. Vor allem die Diskussion sogenannter ‚Angsträume‘ wurde zu einem Gründungsthema der feministisch-geographischen Forschung, in dem sich die Analyse der eingeschränkten Bewegungsfreiheit und Sicherheit von Frauen im urbanen Raum mit dem anwendungsorientierten Anspruch einer geschlechtergerechten Stadtplanung verband (Eickhoff, 1998; Kutschinske & Meier, 2000; Wucherpfennig & Fleischmann, 2008). Mit der Kritik an ‚Angsträumen‘ oder an der einseitigen Orientierung der Gestaltung urbaner Verkehrsinfrastrukturen an den Mobilitätsbedürfnissen erwerbstätiger Männer (Law, 1999; Hanson, 2010) hat die feministische Geographie neue Themen auf die Agenda der Stadtforschung gesetzt, daneben interveniert sie aber auch in bestehende Debatten, wie etwa zu Gentrifizierung und Reurbanisierung, und erweitert diese um feministische Perspektiven (Bondi, 1991, 1999; Kern, 2010; Wright, 2014). [3]
In der Wirtschaftsgeographie befassen sich viele feministische Forschungsarbeiten gegenwärtig mit der Analyse vergeschlechtlichter Arbeitsverhältnisse. Fokussiert wird insbesondere auf die globalisierten „landscapes of care“ (Milligan & Wiles, 2010, S. 736). Feministische Wirtschaftsgeograph_innen führen bestehende Forschungsdebatten der labor geographies (Hanson & Pratt, 1995), der Migrations- und Mobilitätsforschung, der Stadtforschung und Analysen der Globalisierung auf produktive Weise zusammen, indem sie die Entstehung transnationaler care chains nachzeichnen (Pratt & Yeoh, 2003; Pratt, 2009), den multiskalaren Verbindungen zwischen globalen Arbeitsmärkten und veränderten Intimbeziehungen nachgehen (Pratt & Rosner, 2012; England, 2007), Zusammenhänge zwischen dem Bedeutungsgewinn von Care-Arbeit und Neoliberalisierungsprozessen rekonstruieren und die Feminisierung der Arbeit als eine Folge der Restrukturierung urbaner Dienstleistungsmärkte diskutieren (McDowell, 1997, 2008; McDowell, Batnitzky & Dyer, 2007). [4]
Im Schnittfeld von critical geopolitics, transnationalen feministischen Studien und feministischen Analysen aus dem Bereich der Internationalen Beziehungen haben sich seit einigen Jahren die feminist geopolitics entwickelt (Staeheli, Kofman & Peake, 2004; Hyndman, 2001, 2007; Nagar, Lawson & McDowell, 2002). Forschungsarbeiten aus dem Feld der feminist geopolitics ergänzen die Politische Geographie, indem sie gendersensible Perspektiven auf geopolitische Leitbilder und territoriale Konflikte werfen und feministische Kritik an militärischen Auseinandersetzungen, Verteilungskonflikten und dem Machtgefälle in den globalen Nord-Südbeziehungen üben. Ein aktuelles Forschungsfeld bilden in diesem Zusammenhang die Analysen der feminist geopolitics zu gegenwärtigen Flüchtlingsbewegungen und den Folgen restriktiver Grenzpolitik sowie zum Raum des Flüchtlingslagers (Al-Sharmani, 2010; Grabska, 2010; Hyndman & Giles, 2011; Mountz & Loyd, 2014; Mountz, 2011). [5]
Ein weiteres zentrales Forschungsfeld an der Schnittstelle von politischer Geographie und feministischer Ökologie stecken feministisch-geographische Analysen von Geschlechterbeziehungen in Zeiten des Anthropozäns ab (Elmhirst, 2011; Gibson-Graham, 2011; Nightingale, 2006; Whatmore, 2002). Feministische Analysen gehen den global-lokalen Verflechtungen von Verteilungskämpfen nach, sie beleuchten die Neoliberalisierung der Natur, die Folgen von landgrabbing, der Privatisierung und des ungleichen Zugangs zu Ressourcen, diskutieren Fragen der Ernährungssicherheit, kritisieren die Feminisierung von Umweltkonflikten und die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung im Umweltschutz (Bauriedl 2014; Dey, Resurreccion & Doneys, 2014; Radcliffe, 2014; Sultana 2009). [6]
Gegenwärtig ist die feministische Geographie von einer zunehmenden Dynamik der Ausdifferenzierung gekennzeichnet. In jüngerer Zeit macht sich vor allem der produktive Einfluss einer Reihe von Debatten bemerkbar, die das Repertoire feministisch-geographischer Forschung kritisch um postkoloniale, antirassistische und queere Perspektiven erweitert haben (Nash, 2002, 2005; Valentine, 2007; Bell & Valentine, 2003; Saad & Carter, 2005; Browne, Lim & Brown, 2009). Mit Gender, Place & Culture existiert seit 1994 ein eigenes Journal, das die stetig wachsende Vielfalt feministischer Forschungsthemen und Theoriedebatten in der Geographie abbildet. Eine wichtige Plattform für feministische Forschung im deutschsprachigen Kontext ist der Arbeitskreis Geographie und Geschlecht (http://www.ak-geographie-geschlecht.org). [7]