Biologische Evolutionstheorie beschreibt und erklärt die sukzessive Veränderung von Arten durch Vererbung. Sie geht dabei davon aus, dass sich die heutige Vielfalt lebender Organismen über lange Zeiträume hinweg aus früheren Arten entwickelte. Dieser Artenwandel vollzieht sich durch das Wirken verschiedener Evolutionsfaktoren (Zrzavý, Burda, Storch, Begall & Mihulka, 2013; Storch, Welsch & Wink, 2013). War die Frage nach der Erklärung von Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Organismen bereits in der Antike relevant, so wird wissenschaftshistorisch mit der biologischen Evolutionstheorie auf Anfang des 19. Jahrhunderts einsetzende Erkenntnis- und Erklärungszusammenhänge zur Artenentwicklung referiert (Bowler, 1989). Eine umfassende Theorie der biologischen Evolution wurde erstmalig von Charles Darwin (1809–1882) entworfen. In seiner 1859 erschienenen Studie On the Origin of Species sowie weiteren Arbeiten entwickelte er eine Abstammungslehre, die die Entwicklung, gemeinsame Deszendenz und Divergenz von Arten vorrangig durch den Mechanismus der natürlichen Selektion erklärt (Darwin, 1859, 1871, 1872). [1]
Gendertheoretisch informierte Studien zur Evolutionstheorie Darwins stellen auf Grundlage einer diskursanalytischen Untersuchung die Verzerrung von Beobachtungen und Fakten durch sexistische Vorurteile sowie eine androzentristische und heteronormative Perspektive heraus (Russett, 1989; Scheich, 1993; Tuana, 1993; Schmersahl, 1998). Ein besonderer Fokus dieser Studien liegt auf Darwins Theorie der sexuellen Selektion (geschlechtliche Zuchtwahl). Diese Theorie erklärt die Herausbildung geschlechtsspezifischer Merkmale innerhalb einer Art als Ergebnis eines Optimierungsvorganges, durch welchen sich der Fortpflanzungserfolg einzelner Individuen steigert. Darwins Thesen basieren hierbei auf der Prämisse einer Konkurrenz unter männlichen Individuen bezüglich des Zugangs zu Paarungspartnerinnen sowie einer Entwicklung jener Auswahlkriterien, auf deren Grundlage weibliche Individuen ihren Fortpflanzungspartner auswählen. Aus dem Dualismus von männlichem aktiven Werben und weiblichem Wählen leitete Darwin einen stärkeren Selektionsdruck für männliche Individuen ab und wies weiblichen Individuen aufgrund des geringeren Selektionsdrucks ein niedrigeres Entwicklungsniveau zu (Darwin, 1871). In diesem Zusammenhang dokumentieren diskursanalytisch orientierte Studien die strukturelle Übernahme der viktorianischen Geschlechterordnung, welche die britische Gesellschaft im 19. Jahrhundert prägte. Als charakteristisch erweisen sich dabei die Assoziation von Männlichkeit mit Aktivität, promisker Heterosexualität, Aggressivität und Desinteresse an den Nachkommen, die Verbindung von Weiblichkeit mit Passivität, Schamhaftigkeit und Fürsorge, die Reduktion von Sexualität auf Reproduktion und das Ausblenden nicht-heterosexueller Beziehungen. [2]
In der gendertheoretischen Reflektion der Evolutionstheorie Darwins wird des Weiteren auf Interpretationsmuster verwiesen, die den Vorstellungen einer rassistisch-kolonialen Weltordnung und einer liberal-kapitalistischen Gesellschaftsstruktur entspringen (Hubbard, 1979; Keller, 1988, 1991; Becker, 2005). Darwin knüpfte einerseits an die Vorstellung einer zivilisatorischen Überlegenheit europäischer Gesellschaften an (Darwin, 1871, 1872). Zudem bezog er sich auf sozialphilosophische Überlegungen von Herbert Spencer (1820–1903) und Thomas Robert Malthus (1766–1834), welche gesellschaftlichen Fortschritt aus der sozialen Konkurrenz um begrenzte Ressourcen ableiteten. Evolutionäre Theorien des sozialen Wandels waren Darwins Schriften somit bereits vorläufig, wurden jedoch durch die zunehmende Akzeptanz der Evolutionstheorie in ihrer Verbreitung stark befördert und gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Sozialdarwinismus bezeichnet (Vogt, 1997; Merz-Benz, 2010). Dieses Entwicklungsmodell wurde zu jener Zeit auch als Konkurrenzkampf zwischen verschiedenen rassifizierten Menschengruppen gedeutet (Shipman, 1995; Schmuhl, 2010). [3]
Die Evolutionsbiologie ist ein fundamentales Erklärungsmuster moderner biologischer Forschung, welches in allen Forschungsfeldern übergreifend zur Erklärung von Beobachtungen herangezogen wird. Sie operiert jedoch nicht mit einer alle Teilbereiche ihres Forschungsgegenstandes erklärenden Generaltheorie, sondern ist als ein System verschiedener Teiltheorien anzusehen. Auf dem Weg zu ihrer heutigen Ausgestaltung erfuhr die Evolutionstheorie Darwins im 20. Jahrhundert zahlreiche Überarbeitungen. Ergänzt durch Erkenntnisse aus der Populationsgenetik und anderen Disziplinen wurde die Evolutionstheorie in den 1930er und 1940er Jahren zur Synthetischen Evolutionstheorie (Neodarwinismus) ausgearbeitet (Dobzhansky, 1937; Huxley, 1942; Mayr, 1942). Insbesondere die dabei vertretenen Annahmen, dass sich evolutionäre Entwicklungen kontinuierlich in kleinen Schritten vollzögen (Gradualismus) und die Entstehung von Merkmalen alleinig als Anpassungsleistung zu verstehen sei (Adaptionismus), erfuhren folgend jedoch grundlegende Kritik (Gould & Lewontin, 1979; Wieser, 1994; Brigandt, 2010). Zudem stellen neuere Untersuchungen aus den Bereichen der Epigenetik und der Entwicklungsbiologie Grundannahmen der synthetischen Evolutionstheorie in Frage (Laubichler, 2005; Kegel, 2012). [4]
Neben den erwähnten diskursanalytischen Ansätzen wird seit den 1970ern Jahren auch seitens feministischer Biowissenschaftler_innen Kritik an den deterministischen Argumentationen evolutionsbiologischer Forschung geäußert (Tanner & Zihlman, 1976; Hubbard, 1979; Hrdy, 1986, 1997; Haraway, 1989; Gowaty, 1997; Roughgarden, 2004, 2009). Im Rahmen des feministischen Empirismus fokussieren diese Wissenschaftler_innen die Relationen zwischen Theorie, Datenerhebung/-auswertung sowie Interpretationen, entfalten eine qualifizierte Methodenkritik und entwickeln auf dieser Grundlage alternative biologische Entwicklungsmodelle. Entsprechende Arbeiten tragen so dazu bei, innerhalb aktueller evolutionsbiologischer Forschung der Agentialität weiblicher Individuen, kooperativen Interaktionen (insbesondere unter männlichen Individuen) sowie der Vielzahl möglicher Ausgestaltungen von Geschlecht und Sexualität eine höhere Bedeutung beizumessen. [5]
Im Fokus feministischer Methodenkritik stehen insbesondere die Forschungszweige der evolutionären Psychologie sowie der Soziobiologie. Zahlreiche Arbeiten dieser Subdisziplinen proklamieren ein geschlechtsspezifisches soziales Verhalten und begründen dies auf evolutionärer Basis (Wilson, 1975, 1978; Buss, 1994, 1995; Thornhill & Palmer, 2000). Gendertheoretische Analysen dieser Forschungsarbeiten zeigen einen grundlegenden sexistischen und androzentristischen Bias auf und äußern Einwände gegen die in der Evolutionspsychologie und Soziobiologie vertretene These, wonach soziales Verhalten genetisch determiniert sei. Zudem wird hervorgehoben, dass Standards wissenschaftlichen Arbeitens in diesen Disziplinen oftmals missachtet würden, da die empirische Basis des Datenmaterials häufig spekulativ sei und die präsentierten Ergebnisse hypothetischen Charakter aufzeigten (Fausto-Sterling, 2000; Contratto, 2002; Travis, 2003; Smith & Konik, 2011). [6]
Die gendertheoretische Reflexion evolutionsbiologischer Forschung ist auch durch Ansätze gekennzeichnet, der Evolutionstheorie ein feministisches Potenzial abzugewinnen und auf dieser Grundlage einen Darwinian Feminism auszuarbeiten. Aktuell werden diesbezüglich insbesondere die Thesen der Philosophin Elizabeth Grosz debattiert, welche in den Arbeiten Darwins eine strukturelle Grundlage zur Erklärung materieller und gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse sieht (Grosz, 2004, 2005, 2011). Grosz zufolge vollzog Darwin in der Evolutionstheorie nicht eine Essentialisierung von Geschlechterstereotypen, sondern entwarf vielmehr eine antiessentialistische Theorie, da er aufzeigte, wie sich Körper und Systeme durch das fortwährende Wechselspiel von Wiederholung und Differenz kontinuierlich und ohne festes Ziel veränderten. [7]