In öffentlichen Debatten wird Biopolitik als (ungenauer) Sammelbegriff für bioethische, ökologische, demographie- und familienpolitische Debatten genutzt. In sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussionen, und insbesondere in den gender studies, verweist der Begriff zumeist auf die Arbeiten von Michel Foucault (1926-1984). Foucault (1977a; 1999; 2004) stellt mit dem Begriff der Biopolitik eine sowohl historisch-genealogische als auch systematische Analyseperspektive vor. Aus einer historischen Perspektive betrachtet verdeutlicht der Begriff, wie die Organisation von und die Sorge um Leben in der Moderne ins Zentrum der Politik rückt. In systematischer Hinsicht beschreibt er einen Modus der Politik, dessen Zielscheiben das Leben der Bevölkerung sowie der menschliche Individualkörper sind. Ergänzt und spezifiziert wird dieses Konzept der Biopolitik durch den Begriff der Biomacht. Biomacht steht für ein Verständnis von Macht, das nicht primär verbietet und beschränkt, sondern produktiv und auf Lebenssteigerung ausgelegt ist. Entsprechend impliziert Biopolitik eine ambivalente, ebenso fürsorgliche wie kontrollierende Form der Machtausübung. [1]
Biopolitik ist für Foucault keine transhistorische Gegebenheit, sondern eine historische Konfiguration von Politik und Machtausübung, die für die westliche Moderne etwa seit dem 18. Jahrhundert charakteristisch ist. „[D]ie ‚biologische Modernitätsschwelle‘ einer Gesellschaft liegt dort, wo es in ihren politischen Strategien um die Existenz der Gattung selber geht“ (Foucault, 1977a, S. 170-171). Foucault zeigt, wie sich Politik und Leben in und durch ihr historisches Aufeinandertreffen transformieren. So sind die Arenen des Politischen unter den Bedingungen der Biopolitik nicht auf die Orte der institutionalisierten Politik in Parlamenten, Regierungen oder in der politischen Öffentlichkeit begrenzt. Vielmehr findet Biopolitik in Arztpraxen, am Arbeitsplatz und in den intimsten Entscheidungen und Wünschen über Sexualpartner und -praktiken statt. Stets richtet sich Biopolitik nicht primär an Rechtssubjekte, sondern an Menschen als Lebewesen; nicht an ein Staatsvolk, sondern an eine Bevölkerung oder Population. Umgekehrt transformiert sich auch das Leben unter biopolitischen Bedingungen. Leben ist nicht mehr nur die Voraussetzung der Politik, wie etwa in der griechischen Antike, die zwischen bloßem Leben (zoe) und politischer Existenz (bios) unterschieden hatte. Leben selbst wird zum politischen Problem. „Zum ersten Mal in der Geschichte reflektiert sich das Biologische im Politischen“ (Foucault, 1977a, S. 170). [2]
Ähnliches gilt für den ebenfalls von Foucault geprägten Begriff der Biomacht, der „verschiedenste Techniken zur Unterwerfung der Körper und zur Kontrolle der Bevölkerung“ (Foucault, 1977a, S. 167) beinhaltet. Biomacht richtet sich also auf zwei „Pole“, die „durch ein Bündel von Zwischenbeziehungen“ verbunden sind: zum einen auf die „politische Anatomie des menschlichen Körpers“, zum anderen auf die „Biopolitik der Bevölkerung“ (Foucault, 1977a, S. 166). Dementsprechend verbindet Biomacht bevölkerungspolitische Maßnahmen (bspw. Hygienemaßnahmen, Geburtenkontrolle und die statistische Erfassung der Bevölkerung) mit der Disziplinierung der Subjekte (bspw. Schule, Militär, Sexualitätsweisen) (Foucault, 1977a; 1977b). Dabei operiert sie nicht primär über Verbote, sondern durch Förderung des Lebens (der Gesundheit, des Wohlstandes, der Sicherheit etc.) der Bevölkerung. Sie ist keine repressive Macht über, sondern eine Macht für das Leben und im Dienste des Lebens, eine „Macht zum Leben“ (Foucault, 1977a, S. 166). Biomacht tötet nicht wie die alte Macht der Souveränität, auch wenn gerade unter biopolitischen Bedingungen neue Formen tödlicher Biomacht wie der biologische Rassismus entstanden sind (Foucault, 1999, S. 276-305). Es ist nicht die Macht „sterben zu machen oder leben zu lassen“, sondern „leben zu ‚machen’ und sterben zu ‚lassen’“ (Foucault, 1999, S. 284). Das heißt aber auch, dass Macht als Biomacht die ihr unterworfenen Subjekte nicht einfach äußerlich einschränkt, sondern diese zugleich prägt und hervorbringt. Unter dem Stichwort der Gouvernementalität hat Foucault (2004; 2006) das Konzept der Biopolitik aufgegriffen und in den Kontext einer umfassenden Geschichte politischer und ökonomischer Rationalitäten des Regierens gestellt (vgl. Bröckling, Krasmann & Lemke, 2000). [3]
Seit Foucault diese Bestimmungen der Biopolitik und der Biomacht Ende der 1970er Jahre vorgenommen hat, haben eine ganze Reihe von Autor_innen den Begriff aufgenommen, kritisiert, erweitert und auf neue Themen angewendet (vgl. Lemke, 2007; Folkers & Lemke, 2014). Biopolitik wird sowohl zum Stichwort für epochale Gesellschaftsdiagnosen (Agamben, 2014; Hardt & Negri, 2014; Cooper, 2014) als auch zu einem empirischen Forschungsfeld, das vor allem die sozialen Implikationen lebenswissenschaftlicher und biotechnologischer Entwicklungen untersucht (Franklin, 1997; Rose, 2014; Rabinow, 2014). Während einige Autor_innen eine affirmative Biopolitik (vgl. Borsò, 2014) vertreten bzw. die wachsenden Potentiale zur biosozialen Selbstbestimmung im Zeitalter der Lebenswissenschaften betonen (Rose, 2014; Rabinow, 2014), verstehen andere die moderne Biopolitik mit Blick auf den europäischen Kolonialismus, den modernen Rassismus und die nationalsozialistische Vernichtungspolitik als „Nekropolitik“ (vgl. Mbembe, 2014) bzw. „Thanatopolitik“ (vgl. Agamben, 2014, S. 194). [4]
Auch die feministische Rezeption des Biopolitikkonzepts hat eine Reihe von Kontroversen hervorgerufen. Moderne Biopolitik bildet eine der Grundlagen für die Naturalisierung hierarchisierter Zweigeschlechtlichkeit. Ebenso kann in Biopolitik die ambivalente Einlösung eines grundlegenden Postulats der neuen Frauenbewegung gesehen werden, nach der auch das Private, d.h. das gesamte Leben inklusive der Bereiche der Reproduktions- und Fürsorgearbeit, politisch ist. In diesem Sinne wird die Frauenbewegung selbst als aktive biopolitische Akteur_in der Biomacht beschrieben (Murphy, 2012). Die ambivalente Haltung zur Biopolitik im Feminismus setzt sich in der Frauen- und Geschlechterforschung fort (Sänger & Rödel, 2012). Gerade in den feminist technoscience studies – stark inspiriert von Donna Haraway (1995) – findet eine kontroverse Debatte über die Implikationen biotechnologischer Innovationen statt (vgl. Parisi, 2004; Braidotti, 2014). In der biopolitischen Postmoderne wird der Körper nicht mehr als eine in sich abgeschlossene und fixierte Entität, sondern als flexibler Code mit durchlässigen Grenzen verstanden. Daraus ergeben sich einerseits Potentiale zur De-Essentialisierung insbesondere des Geschlechtskörpers. Aktuelle Formen der Biopolitik können deshalb das Terrain für Politiken des undoing gender sein, wie sie bspw. in den Arbeiten von Judith Butler beschrieben werden (Butler, 1991; 2009). Gleichzeitig kritisieren Feministinnen die technowissenschaftlichen Kontrollphantasien, die eine beliebige Formbarkeit des Körpers mit den Mitteln der Genetik versprechen (Gehring, 2006). Im Zuge der Entwicklung moderner Reproduktionsmedizin ist eine breite Debatte in der Geschlechterforschung entstanden (exemplarisch: Rödel, 2014), in der einerseits die Medikalisierung des weiblichen Körpers und Responsibilisierung der schwangeren Frau kritisiert, anderseits die wachsenden Potentiale zur reproduktiven Selbstbestimmung sowie das Entstehen von reproduktiven Sozialitätsformen jenseits der Zweigeschlechtlichkeit affirmiert werden. Dieses Spannungsfeld zeichnet weitere Bereiche der Biomedizin aus. So werden die zunehmenden Formen des körperlichen Selbstmanagements als eine Ausweitung der Techniken der Selbstführung analysiert, aber auch neue Handlungsspielräume ausgeleuchtet (vgl. Bublitz, 2001; Duttweiler, 2005; Villa, 2008). [5]
In den queer studies wird u. a. an Foucaults Analytik des Sexualitätsdispositivs angeknüpft (vgl. Hark, 1996; Laufenberg, 2014). Die queer studies bedienen sich dabei Foucaults historischer Grunderkenntnis, dass Homosexualität zunächst als Kategorie der Sexualpathologie entstanden ist, um gleichgeschlechtliches Begehren auf eine ‚natürliche’ Identität zu beziehen und den / die Homosexuellen als Zielscheibe der Normalisierung aufzurichten. Sabine Hark verweist hierbei auf die Schwierigkeit, queer studies zu institutionalisieren, ohne zugleich die Kategorie queer als vorgängige festzuschreiben, sondern vielmehr im Sinne Foucaults als Effekt einer Praxis von Disziplinierung zu verstehen (Hark, 2004). In dieser werden Individuen gerade in der Abweichung von der Norm markiert und als deviante Subjekte hervorgebracht (Hark, 1996). [6]