Altersarmut ist ein gesellschaftliches Phänomen, das einen Mangelzustand in der Lebensphase des Alters beschreibt. Analytisch ist die Phase Alter im Lebenslauf nicht eindeutig bestimmbar, sondern biografisch wie soziohistorisch bedingt und gegenwärtig zunehmenden Pluralisierungsprozessen unterworfen (Backes & Clemens, 2013, S. 22–24). ‚Alter‘ gilt in industrialisierten Gesellschaften – in Abgrenzung zur Kindheit und zum Erwachsenenalter – zumeist als dritte Lebensphase, deren Beginn für gewöhnlich durch den Renteneintritt, d. h. durch das festgesetzte kalendarische Regelpensionsalter (van Dyk, 2015, S. 15–24), markiert wird. Die Vorstellung eines erwerbszentrierten ‚Normallebenslaufs‘ und die damit einhergehende Normierung von abweichenden, nicht erwerbszentrierten Lebensverläufen (Backes & Clemens, 2013, S. 11–12, S. 63) geriet aus feministischer und geschlechterwissenschaftlicher Perspektive als androzentrisches Konstrukt in die Kritik (vgl. Backes, 2002). Neben beispielsweise Kinder- oder Frauenarmut ist Altersarmut ein Begriff, mit dem Erscheinungsformen von Armut kategorial eingegrenzt werden (Butterwegge, 2009, S. 87–94; Heitzmann & Schmidt, 2002). Armut stellt eine „multidimensionale Lebenslage“ (Mogge-Grotjahn, 2018, S. 523) dar, die ökonomische, soziale und kulturelle Aspekte gleichermaßen betrifft (Butterwegge, 2009, S. 28, 2018, S. 17) und entweder an bestimmte Lebensphasen geknüpft ist oder sich dauerhaft fortsetzen kann (Mogge-Grotjahn, 2018, S. 523). Armut respektive Altersarmut ist ein umkämpfter Begriff (Barlösius & Ludwig-Mayerhofer, 2001; Butterwegge, 2018, S. 23–29; vgl. kritisch Krämer, 2000; Schneider, 2015). Dessen wissenschaftliche Konzeptualisierung (Ressourcenansatz, Lebensstandardansatz, Lebenslagenansatz, Ansatz der Verwirklichungschancen [capability apporoach], Exklusionsansätze) (vgl. Dittmann & Goebel, 2018, S. 23–31) und politische Normsetzung hat entscheidende Auswirkungen auf die Festlegung von Armutsindikatoren und Armutsgrenzen, damit auch auf gesellschaftliche Armutszuschreibungen sowie auf Formen der Armutsbekämpfung (Heitzmann, 2002, S. 127; Mädje & Neusüß, 1996, S. 209; Dittmann & Goebel, 2018, S. 21). Eine in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft weitgehend anerkannte Unterscheidung ist diejenige zwischen absoluter und relativer Armut (Butterwegge, 2018, S. 8–13; Heitzmann, 2002, S. 126; Sellach, 2010, S. 473; Dittmann & Goebel, 2018, S. 22–23). [1]
Zur Ermittlung relativer Armut ist die Armutsrisikoquote ein häufig genutzter Indikator, mit dem der Anteil derjenigen Haushalte gemessen wird, die laut EU-Vorgaben weniger als 60 Prozent des ortsabhängigen mittleren durchschnittlichen Einkommens, des sogenannten Nettoäquivalenzeinkommens, zur Verfügung haben (Butterwegge, 2018, S. 14–15). Mithilfe dieser Quote kann zum einen eine kontinuierliche Zunahme der Armutsgefährdung für die Gruppe der über 65-Jährigen in der Bundesrepublik Deutschland im Zeitraum von 2005 bis 2017 aufgezeigt und zum anderen auf einen geschlechtsspezifischen Unterschied verwiesen werden: Frauen sind im Alter häufiger arm als Männer (Butterwegge & Hansen, 2012, S. 111–112; Vogel & Künemund, 2018, S. 144–145, Statistisches Bundesamt, 2019). 2015 lagen die durchschnittlichen Rentenzahlungen bei Altersrenten in Deutschland bei Frauen mit ca. 616 Euro (West) und 850 Euro (Ost) deutlich unter denen der Männer (1.117 Euro West / 976 Euro Ost) (Mogge-Grotjahn, 2018, S. 531). Aus einer intersektionalen Perspektive (vgl. Küppers, 2014) bilden die Kategorien weibliches Geschlecht, Arbeiter*innen- und nichtwestlicher Migrationshintergrund, geringe Bildung sowie Singlehaushalt miteinander verwobene Faktoren der Armutsgefährdung im Alter (Götz & Lehnert, 2016, S. 88; Vogel & Künemund, 2018, S. 147). Die höhere weibliche Bezugsquote von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bestätigt außerdem, dass Altersarmut insbesondere Frauen betrifft (Butterwegge & Hansen, 2012, S. 113; Vogel & Künemund, 2018, S. 146–147). Studien weisen überdies auf eine hohe Dunkelziffer hin, da viele Frauen aufgrund von Scham, Unwissen oder Bescheidenheit ihren Anspruch auf Grundsicherung nicht geltend machen (Becker, Hauser, & Kortmann, 2005; Vogel & Künemund, 2018, S. 146–147). Weibliche Altersarmut wird dementsprechend unterschätzt, nicht zuletzt auch aufgrund unzureichender geschlechterdifferenzierter Messverfahren (Sellach, 2010, S. 473). So verschleiert beispielsweise die Haushaltsperspektive bei der Berechnung der Armutsrisikoquote die zwischen Männern und Frauen ungleich verteilten Armutsrisiken innerhalb einer Haushaltsgemeinschaft (Betzelt, 2018, S. 166). [2]
Empirisch betrachtet ist die höhere Armutsgefährdung von älteren Frauen auf geschlechtstypische Beschäftigungsmuster zurückzuführen: männliche Erwerbsbiografien sind überwiegend von Vollzeitbeschäftigung und Kontinuität gekennzeichnet, wohingegen viele weibliche Erwerbsbiografien durch niedrige bis keine Erwerbsbeteiligung, längere Erwerbsunterbrechungen aufgrund von Care-Arbeiten, Teilzeitbeschäftigung sowie Beschäftigungen im Niedriglohnsektor ohne Sozialversicherungspflicht geprägt sind. Hinzu kommen ein doppelt segmentierter Arbeitsmarkt (vgl. Herrmann, 2014) sowie geschlechtsspezifische Lohnunterschiede bei gleicher Tätigkeit. Die aufgezeigten Aspekte summieren sich zum sogenannten Gender-Pay-Gap, der 2017 in Deutschland bei 22,5 % (West) bzw. 6,7 % (Ost) lag (vgl. WSI, 2019; Eicker 2017). Im Verlauf der Erwerbsbiografie kumulieren sich diese zum deutlich höheren Gender-Pension-Gap, der im Juli 2017 42 % (West) bzw. 22 % (Ost) betrug (Mogge-Grotjahn, 2018, S. 529–531; Götz, Gajek, Rau & Schweiger, 2017, S. 55–59). Die deutlichen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland verweisen auf die wechselseitige Bedingtheit, die zwischen ‚privaten‘ Geschlechterarrangements und Lebensentscheidungen und den jeweiligen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Strukturen besteht. Aufgrund der höheren Erwerbsbeteiligung und der längeren Erwerbstätigkeitsdauer von Frauen in Ostdeutschland sind diese seltener von Altersarmut betroffen. Das für Westdeutschland hegemoniale male breadwinner model im Fordismus, auch Normalarbeitsverhältnis genannt (idealtypisch: männlicher Vollzeiterwerbstätiger und weibliche Vollzeitfamilienarbeitende), wirkte sich insbesondere im Falle der Scheidung als armutsgefährdend aus. Zwar lässt sich gegenwärtig eine diskursive Verschiebung hin zum adult worker model (idealtypisch: zwei Vollzeiterwerbstätige unabhängig vom Geschlecht) feststellen, empirisch jedoch eine Tendenz zum Eineinhalb-Ernährer-Model (idealtypisch: männlicher Vollzeiterwerbstätiger und weibliche Teilzeiterwerbstätige sowie Vollzeit-/Teilzeitfamilienarbeitende) nachweisen (Butterwegge & Hansen, 2012, S. 119). Aufgrund dessen kann, gleichbleibende strukturelle Rahmenbedingungen vorausgesetzt, auch zukünftig eine höhere weibliche Armutsrisikoquote erwartet werden. [3]
Die strukturellen Ursachen für die vergeschlechtlichte Altersarmutsrisikoquote liegen im historisch gewachsenen, erwerbszentrierten System sozialer Sicherung. Mit der Ablösung feudaler großfamiliärer Strukturen wurde die Absicherung älterer Menschen zunehmend von deren individueller – lebenslanger – Erwerbsfähigkeit abhängig. Erst durch die rentenpolitischen Maßnahmen der 1957 unter Konrad Adenauer (1876–1967) durchgeführten Sozialreform, die sich mit den Schlagworten Lebensstandardsicherung, Umlageverfahren, Dynamisierung und Äquivalenzprinzip zusammenfassen lässt (Denninger, van Dyk, Lessenich & Richter, 2014, S. 69), wurde das Alter als eine erwerbsarbeitsbefreite und gesellschaftlich abgesicherte Lebensphase gesetzlich verankert und Altersarmut weitgehend eingedämmt (Denninger et al., 2014, S. 63–74; van Dyk, 2015, S. 17–20; Göckenjan, 2000, S. 298–375). Gleichzeitig wurde diese neue Form staatlicher Alterssicherung strukturell mit der Teilhabe an Erwerbsarbeit und mit Transfereinkommen (z. B. Witwenrente), die wiederum auf Erwerbsarbeit beruhen, verknüpft (Mogge-Grotjahn, 2018, S. 532). Frauen waren in dieser Ausgestaltung des Sozialstaates und vor dem Hintergrund eines kapitalistischen Geschlechterregimes sowie eines geschlechtsspezifischen Zugangs zur Erwerbssphäre (vgl. Gruhlich, 2018) zwar immer mitabgesichert, dies aber überwiegend im Rahmen der Ehe und abhängig vom Ehemann (Mairhuber, 2002, S. 140–141). Die Etablierung dieses konservativen Wohlfahrtsstaatstypus (Butterwegge & Hansen, 2012, S. 117; Betzelt, 2018, S. 169–170) führte zur Institutionalisierung geschlechtsspezifischer Armutsrisiken. [4]
Die strukturellen Dimensionen sozialer Ungleichheit stellen empirisch wie theoretisch die Perspektive dar, unter der Armut wissenschaftlich betrachtet wird. Ein geschlechtsspezifischer Blick hielt erst in den 1990er Jahren mit der Weiterentwicklung von Klassen-, Schicht- und Milieuansätzen hin zu Lebenslagemodellen und der Einforderung einer intersektionalen Perspektive Einzug in die allgemeine Ungleichheitsforschung (Mogge-Grotjahn, 2018, S. 524–525). Gegenwärtig setzt sich eine eigene Forschungsrichtung der feministischen Theoriebildung mit der Erfassung und Analyse ungleicher Verhältnisse auseinander, die Konzepte feministischer Kapitalismuskritik (Aulenbacher, Riegraf & Völker, 2015) oder auch Konzepte zu Prekarisierung, Arbeit und Sorge einbezieht (Völker & Amacker, 2015; Aulenbacher et al., 2015; Rau, 2017; Motakef, 2015). Zwar hat die Alternsforschung vereinzelt seit den 1980er Jahren auf eine Spezifik weiblichen Alter(n)s hingewiesen (van Dyk, 2015, S. 21; Backes, 1983), und die Frauen- und Geschlechterforschung hat die Ursachen weiblicher Armutsrisiken in den letzten vier Jahrzehnten weitgehend aufgearbeitet (Sellach, 2010; Mairhuber, 2002; Reinl, 1997; Heitzmann & Schmidt, 2002; Riedmüller, 1984). Die Schnittstelle zwischen Alter, Armut und Geschlecht ist jedoch ein randständiges Thema (Ausnahmen: Mogge-Grotjahn, 2018; Butterwegge & Hansen, 2012; Götz, 2019). Nahezu eine Leerstelle im Feld vergeschlechtlichter Altersarmut bilden vor allem praxeologische Ansätze, die die Handlungsebene in den Blick nehmen (Mogge-Grotjahn, 2018, S. 533–534) und solche, die die subjektiven Dimensionen von Armut bzw. von Armutsgefährdung ausleuchten (Ausnahmen: Götz, 2019; Götz et al., 2017; Lejeune, Romeu Gordo & Simonson, 2017). [5]
Die Vielzahl der rentenpolitischen Maßnahmen seit den 1990er Jahren, insbesondere die Rentenniveausenkung, die Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre und die Einführung des Drei-Säulen-Modells (Buntenbach, 2012, S. 227–228), führten zu einem Umbau des Sozialstaates und zu einer Ausweitung privater Vorsorge (Butterwegge & Hansen, 2012, S. 121). Die zeitgleichen Wandlungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt durch den Ausbau des Niedriglohnsektors und die Verbreitung atypischer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse befördern eine Zunahme von Armut im Alter. Ohne politische Korrektive ist davon auszugehen, dass sich dieser Trend fortsetzen wird (Vogel & Künemund, 2018, S. 149; Vogel, & Motel-Klingebiel, 2013a, 2013b). Auch wenn das strukturell bedingte, höhere Risiko weiblicher Altersarmut wissenschaftlich nachgewiesen wurde und zu einer der größten sozialpolitischen Herausforderungen gezählt werden kann (Butterwegge & Hansen, 2012, S. 128–129; Götz, 2019), wird es in den bisherigen Präventionsvorschlägen nicht als leitendes Organisationsprinzip des wohlfahrtsstaatlichen Systems anerkannt (Mädje & Neusüß, 1996, S. 206; Mogge-Grotjahn, 2018, S. 534). Innerhalb geschlechtertheoretischer Forschungsansätze wird zudem davor gewarnt, dass die Ausweitung des adult worker model die Mehrfachbelastung von Frauen verschärfe (Götz & Lehnert, 2016, S. 99; Auth, Klenner & Leitner, 2015). Im Gegensatz dazu müssten weibliche Lebensmuster, die häufig durch eine problembehaftete Vereinbarung von Erwerbs- und Care-Arbeiten gekennzeichnet sind, normgebend für das System sozialer Sicherung sein (Fraser, 1996, S. 429; Mairhuber, 2002, S. 152; Mogge-Grotjahn, 2018, S. 534–535). Konkrete Vorschläge und Möglichkeiten der Umsetzung einer strukturellen Änderung werden unter dem earner and carer model (Gornick & Meyers, 2003; Auth et al., 2015; Mogge-Grotjahn, 2018, S. 534–535) verhandelt. [6]