Archiv bezeichnet eine Einrichtung, in der Schriftstücke, Dokumente, Akten und andere Zeugnisse gesammelt, geordnet, bewahrt und restauriert werden (vgl. Assmann, 2006, S. 26). Auch die Sammlungen innerhalb eines Archivs selbst werden als Archiv bezeichnet. Für staatliche und andere gesellschaftliche Institutionen sind Archive als Verwaltungssysteme relevant, da dort über die subjektive Auswahl von Informationen ein „Funktionsgedächtnis“ (Assmann, 1999, S. 137) konstituiert wird. Neben der verwaltenden Funktion können Archive aber auch die Rolle eines „Speichergedächtnisses“ (Assmann, 1999, S. 137) erfüllen, in dem für die Gegenwart nicht mehr unmittelbar relevante Zeugnisse vergangener Gesellschaften verwahrt werden. Die Funktion des Speichergedächtnisses verweist darauf, dass als Funktionsgedächtnis konstituierte politische Archive im Zuge gesellschaftlichen Wandels zu historischen Archiven werden können, in denen Archivgüter losgelöst von ihrer ursprünglichen, oft (staats-)legitimierenden Funktion, gesichert werden (vgl. Assmann, 2008, S. 103). Sind historische Archive öffentlich zugänglich, können sie die Basis für Wissen und Erkenntnis sowie Gedächtnis und Andenken bilden (vgl. Assmann, 2006, S. 28). [1]
Etymologisch geht das Wort Archiv auf das griechische arché / arkhē zurück, das übersetzt sowohl Ursprung, Anfang als auch Behörde oder Amtsstelle bedeuten kann (vgl. Online Etymology Dictionary, 2020; Assmann, 1999, S. 343). Die ursprüngliche Bedeutung verweist auf eine enge Verschränkung von Archiv und institutioneller Macht. Archive sind demnach keine neutralen Orte, die passiv Wissen verwahren (vgl. Eichhorn, 2013, S. 2). Die Anglistin und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann (*1947) spricht vom Archiv in seiner verwaltenden Funktion auch als „Gedächtnis der Herrschaft“ (Assmann, 1999, S. 343). Und dem Philosophen Jacques Derrida (1930–2004) zufolge gibt es „keine politische Macht ohne Kontrolle über die Archive“ (Derrida, 1995, S. 11). Kontrolle über Archive äußert sich in Entscheidungen derer, die gesellschaftliche Machtpositionen innehaben, z. B. in Politik, Kirche, Wissenschaft, Medien: Sie und von ihnen eingesetzte Wächter*innen / Archivar*innen entscheiden darüber, welche Dokumente ins Archiv aufgenommen werden und welche nicht. [2]
Spätestens seit dem archival turn in den Kulturwissenschaften im ausgehenden 20. Jahrhundert lässt sich ein wachsendes theoretisch-kritisches Interesse am Archiv beobachten (vgl. Stingelin, 2016, S. 21). Die Wissenschaftler*innen rekurrieren unter anderem auf Jacques Derrida und Michel Foucault (1926–1984); letzterer verwies auf die Fundamentalfunktion des Archivs als „das Gesetz dessen, was gesagt werden kann“ (Foucault, 1973 [1969], S. 186), worauf Assmanns Lesart des Archivs als Auskunftsstätte über die in der Zukunft vergangene Gegenwart Bezug nimmt (vgl. Assmann, 2006, S. 26). Diese kulturwissenschaftliche Deutung sieht im Archiv ein eingeschränktes und zugleich einschränkendes Instrument, das ein einseitiges, verzerrtes und lückenhaftes Bild der Gesellschaft widerspiegelt (vgl. auch Didi-Huberman & Ebeling, 2007, S. 7). Bestimmten Akteur*innen wird mehr Raum und Sichtbarkeit gewährt als anderen. Werden Archivgüter entlang der Kategorien gender, race, class und sexual orientation untersucht, lässt sich beispielhaft erkennen, wie sich patriarchale Strukturen in die traditionellen Archive der westlichen Welt eingeschrieben haben (vgl. Schwartz & Cook, 2002, S. 16–17). Eine basale Erklärung dafür ist, dass seit der Antike überwiegend schriftliche Zeugnisse Eingang in Archive fanden (vgl. Gadamer, 2010, S. 169; Assmann, 2006, S. 23). Die Schriftkultur war jedoch vorrangig Männern in Machtpositionen (Priestern, Herrschenden) zugänglich; Frauen und andere Schriftunkundige waren somit strukturell benachteiligt. Diese Ungleichheit setzte sich fort, indem Frauen die Teilhabe am öffentlichen Diskurs sowie der Zugang zu Bildung, Politik, Religion und Wissenschaft vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert weitgehend verwehrt blieb. Einzelfälle, in denen Frauen Bildung und Machtpositionen erlangten und infolgedessen Eingang ins Archiv fanden oder auch Archive gründeten, erhöhten die Sichtbarkeit einer strukturellen Ungleichverteilung der Geschlechter (vgl. Lerner, 1994). [3]
In den 1960er- und 1970er-Jahren erwuchs im Zuge der zweiten Frauenbewegungen (vgl. Dehnavi, 2016) in den USA und in Westeuropa das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Frauengeschichtsschreibung (vgl. Berger & Hahnenkamp, 2017; Decker, 2013, S. 36). Für die DDR und die (mittel-)europäischen sozialistischen Länder des ehemaligen ‚Ostblocks‘ kann ein solches Bewusstsein ebenso angenommen werden (vgl. MONAliesA, 2019). Die politischen Bedingungen in ehemaligen Ländern des sogenannten Ostblocks ließen jedoch Entwicklungen wie in Westeuropa vornehmlich im privaten Raum zu und wurden erst im Zuge der Perestroika und nach 1989 öffentlich. Das neue weibliche Selbstverständnis evozierte eine Um- und Neubewertung existierender Archive mit dem Ziel, weibliche Geschichtserfahrungen (wieder-) zu entdecken (vgl. Assmann, 2006, S. 30): Patriarchalische Strukturen widerspiegelnde Quellen wurden „gegen den Strich gebürstet“ (Benjamin, 1980 [1942], S. 697), und bisher als illegitim geltende Repräsentationsmechanismen wie mündliche Überlieferungen, Performances, kurzlebige Gebrauchsgegenstände gewöhnlicher und privater Natur fanden Eingang in Archive. Es wurden auch eigenständige, oft nichtstaatliche Frauen- und Lesbenarchive gegründet; im deutschsprachigen Raum schlossen sich diese 1994 zum i.d.a. – Dachverband deutschsprachiger Lesben- und Frauenarchive, -bibliotheken und -dokumentationsstellen aus Deutschland, der Schweiz, Österreich, Luxemburg und Italien zusammen, auf dessen Meta-Katalog das Digitale Deutsche Frauenarchiv basiert (vgl. Aleksander, 2019). [4]
Auch Geschichtserfahrungen anderer (teilweise mehrdimensional) diskriminierter Gruppen sind in Archiven unterrepräsentiert: Erfahrungen Schwarzer Personen – insbesondere diejenigen Schwarzer Frauen – aus der Zeit vor und während des transatlantischen Versklavungshandels werden in Archiven beispielsweise nur bruchstückhaft erwähnt (vgl. Fuentes, 2016, S. 1; Berry & Gross, 2020, S. 9). Angesichts von Leerstellen und Abwesenheiten fordern viele Wissenschaftszweige eine Dekonstruktion und Erweiterung des Archivbegriffs. Unter anderem versuchen die Black Studies, die Postcolonial Studies und die Queer Studies durch alternative Praktiken der Geschichtsschreibung Mängeln im Archiv entgegenzuwirken (vgl. Hartman, 1997; Halberstam, 2005; Guha, 1997). Dieses Ziel wurde, teils in Anlehnung an die vom schwedischen Literaturhistoriker Sven Lindqvist begründete Grabe-wo-du-stehst-Bewegung (Gräv där du står), ebenfalls verfolgt: Seit den späten 1970er-Jahren entstanden in der BRD Geschichtswerkstätten, Oral-History-Projekte und andere alltagsgeschichtliche Initiativen, um lokal und für eine breite Öffentlichkeit „Geschichte von unten“ (vgl. Spitta, 2009, S. 21) zu verfassen. [5]
Die intersektionale Heterogenisierung von Archiven auf theoretischer Ebene sowie die vermehrte Akzeptanz zuvor illegitimer Archivgüter rufen teils Kritik hervor. Verfechter*innen eines klassischen Archivbegriffs befürchten, dass das Archiv künftig „überall und infolgedessen nirgendwo“ (Burton, 2005, S. 5) ist. Für andere greift die Erweiterung des Archivs hingegen zu kurz. Sie fordern ein delinking, eine radikale Entkopplung vom westlichen Denken (vgl. Mignolo, 2007, S. 459) und den mit diesem einhergehenden monologischen Einschreibungen in Archive weltweit (vgl. Broeck, 2012, S. 174). Ein weiterer kritischer Ansatz ist jener der shadow archives. Dieser stellt den Dualismus ‚voller‘ versus ‚leerer‘ Archive infrage, die nachträglich ‚gegen den Strich gebürstet‘ werden müssen. Die Annahme ist vielmehr, dass Marginalisierte, Stigmatisierte und um Anerkennung ringende gesellschaftliche Gruppen – Frauen, Arme, Nicht-Weiße, Kranke, Kriminelle etc. – und ihre Erzählungen als shadow archives immer schon Teil der Archive waren (vgl. Sekula, 1986, S. 10). Es gilt demnach, Verflechtungen (entanglements) statt Leerstellen aufzudecken und eine Lesart von Archiven zu etablieren, die wechselseitige Transfers in den Blick nimmt (vgl. Haschemi Yekani, Nyong’o & Boesenberg, 2018). [6]
Die aufgezeigten Möglichkeiten und Probleme des Archivs werden seit den 2000er-Jahren um solche ergänzt, die mit der Digitalisierung einhergehen. Die Frage nach Verflechtungen von Archiv und Macht bleibt auch im digitalen Zeitalter zentral. Ob das Internet dabei als „riesige[s] dezentrale[s] Archiv“ (Assmann, 2009, S. 174) gelten kann oder das Ende des Archivs selbst bedeutet, wird derzeit in den Kultur- und Medienwissenschaften kontrovers diskutiert (vgl. Bergermann, 2012, S. 371). Digitalisate analoger historischer Quellen und genuin digitale Objekte bergen die Chance des vereinfachten Zugriffs außerhalb des Archivlesesaals auf eine immer größere Zahl von Archivgütern, unterliegen jedoch ähnlichen Gefahren wie ihre Vorgänger (z. B. Papier, Papyrus) durch eine begrenzte zeitliche Nutzbarkeit (vgl. Wellmann-Stühring, 2016, S. 255). Elektronische Ressourcen müssen auf Dauer konserviert und lesbar sein; schnelllebige technische Entwicklungen erschweren die Langzeitsicherung und erfordern fortgeschrittene IT-Kenntnisse (vgl. Pilger, 2016, S. 86). Neue Gefahren wie die einer möglichen Dekontextualisierung und Manipulation der digitalen Archivgüter kommen hinzu. Angesichts infrastruktureller Fragen nach den Eigentümer*innen der Server, auf denen elektronische Ressourcen gespeichert sind, nach den Programmier*innen der zugrunde liegenden Codes, und nach den Nutzer*innen, die Zugang zum Netz haben, wird auch die vermeintlich demokratische Beschaffenheit digitaler Archive und des Internets kritisch betrachtet (vgl. Lepper & Raulff, 2016, S. 7; Kuster, Lange & Löffler, 2019, S.105). Eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und anderen Minderheiten am ‚kollektiven Weltgedächtnis‘ im Internet ist bislang nicht gegeben: Der „Kopf, der das Gedächtnis umfasst, [ist] statistisch gesehen immer noch eher westlich, weiß, männlich und middle class […]“. (Bergermann, 2012, S. 375). [7]